Kultur | Salto Afternoon

Die Sinnes-Sintflut

"documenta 14, Kassel": die Frage nach dem Sinn, eine Herausforderung für alle Sinne.
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Foto: Foto: Salto.bz

Die documenta ist kein Spaziergang, sie ist ein Erlebnispark. Wer mitspielen will, sollte am besten einen Rucksack voller Lexika mitbringen. Der documenta-Besucher will gewarnt sein: Voraussetzungen sind ein hohes Konzentrationsvermögen, viel Geduld, unmenschliches Vorwissen und Regenschutz: Denn in der ganzen Stadt wimmelt es von wandelnden Regenponcho-Piraten, die auf ihren Stadtplänen die nächstgelegenen Kunstschätze suchen.

Mitmachen
Mitten im Kassel-Getöse ist es Zeit für eine Auszeit. Kopfhörer auf, Augen zu. Ruhe. Dann eine ruhige Stimme die zu mir spricht und mich einlädt, eine Performance gemeinsam mit ihr zu machen. Die Stimme hallt, so als würde wir uns in einem endlos Großen leeren Raum befinden. Alleine. Die Stimme wirkt vertraut, ich folge ihren Anweisungen. „Stelle dir am Boden einen Kreis mit 3 Metern Durchmesser vor. Gehe langsam am Rand des imaginären Kreises entlang“. Dann soll ich den Kreis, mein Aktionsfeld, betreten. Musik erklingt, sanft und melodisch; die Stimme spielt mit meinen Erinnerungen, sie formt meinen Körper, alltägliche Gesten und neue Bewegungen. Ich werde zur Skulptur, einer ganz bestimmten Skulptur, die jeder kennt, deren Original jedoch nicht mehr erhalten ist.
Meine Performance als diese Figur ist ebenso nicht von langer Dauer. Werde ich mich an sie erinnern, genauso wie die Erinnerung an das Original über die Jahrtausende bestehen blieb?

Die Aktion Perform yourself ist ein Projekt von Hannes Egger, das dazu einlädt einen eigenen performativen Raum zu kreieren und selbst zum Kunstobjekt zu werden. Die fast schon hypnotisierende Musik stammt vom Südtiroler Künstler Mr. Coon.

Sich selbst performen können sich nicht nur documenta-Besucher in der Performance Arena auf der grünen Wiese auf dem Friedrichsplatz in Kassel: Jeder Interessierte kann sich durch den QR-Code die Audiospur aufs Handy laden und sich von der Stimme irgendwo ins nirgendwo treiben lassen. Wie es sich wohl anfühlt in der Bozner Altstadt zu performen? Oder vielleicht doch lieber an einem abgeschotteten Ort mitten in den Bergen?

Hören
Die documenta 14 legt einen starken Fokus auf Audiokunst. Aber auch abseits der Ausstellungsorte schwebt eine experimentelle Geräuschkulisse über Kassel. Kleine Schreckmomente bereitet die Whispering Campaign von Pope L. den Spaziergängern: „Ignorance is a virtue“ flüstert es aus Lautsprechern in der ganzen Stadt.

Lauter und hektischer geht es auf den Kanälen des documenta-eigenen Radio Programmes, Savvy Funk, zu. Das vom Bozner Kunstverein ar/ge kunst co-produziert Programm wird, inklusive Wetter- und Nachrichtendienst, ausschließlich von Künstlern gehalten. Mit dabei war auch das Künstlerduo Silvia Ploner (Innichen) und Nicolas Perret (Nizza), die schon seit 2011 unter dem Namen Islands Songs zusammenarbeiten. Auf Savvy Funk spielten sie ihr neuestes Werk, YNK, ein Hörstück, das Klänge und Gedanken vereint und die Beziehungen zwischen Leben, Körper und Materie untersucht. Anfang September kann man die Werke der beiden in Bozen sehen und hören.

Sehen
Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Betrachtens und Bestaunens steht vor allem ein Monument: der Bücher-Parthenon der argentinischen Künstlerin Marta Minujíns. Errichtet nach dem Vorbild des Athener Parthenon besteht das Wahrzeichen der documenta aus über 50.000 Büchern die im Laufe der Geschichte in verschiedenen Orten der Welt zensiert wurden. Sogar Harry Potter und Micky Mouse sind dabei! Gestützt wird der Baustoff „Buch“ nur von Kunststofffolie; Plastik, das nach der documenta lustigerweise in Joghurtbecher recycelt werden soll. Kunstsammler bereiten sich bereits jetzt den ihnen bevorstehende exzessiven Joghurtkonsum vor.   

Auch abseits des Bücher-Parthenon als Monument für die Meinungsfreiheit, findet sich in Kassel eine sehr starke politische Meinungspräsenz. Politische Kunst und kunstkritische Politiker treffen aufeinander: auf dem zentralen Königsplatz ragt der von einem AFD-Politiker als „entartete Kunst“ bezeichnete Obelisk des nigerianischen Künstlers Olu Oguibe in den Himmel. Auf Deutsch, Arabisch, Türkisch und Englisch dekorieren ihn die Lettern „ich war fremd, aber ihr habt mich beherbergt“.

In der Neuen Galerie stehen Fragen von Nationalstaat, Zugehörigkeit und Kolonialismus im Fokus. Zwischen Werken von Gustav Courbet und Gerhard Richter, welche dem Besucher aufgrund des vorgebenden Themas unangenehm fehl am Platz erscheinen, findet sich dort auch die Videoarbeiten Journey to Russia des in Meran geborenen Künstlers Yervant Gianikian und seiner Partnerin Angela Ricci Lucchi. Der Film zeigt Archivaufnahmen aus der Sovjet Union und versucht eine Brücke zwischen dem Imperialismus und der Moderne aufzuzeigen.

Viele der Werke erinnern interessanterweise stark an die diesjährigen Wiener Festwochen. Nicht nur das Thema des Postkolonialismus und der Fokus auf das politische Mandat der Kunst, auch viele der Künstler und Kuratoren der Festwochen finden sich in Kassel wieder.

Lesen
In Kassel laufen die Gehirne auf Hochtouren. Das Konzept „Kunst auf sich wirken lassen“ funktioniert hier nicht immer. Viele der präsentierten Werke sind aus jahrelangen langen Recherchen entstanden, Recherchen die für das Erkennen der verschiedenen Zusammenhänge der Werke vorausgesetzt werden. Schnell fühl man sich verloren, wenn man mit der Interpretation der komplexen Kunstwerke alleingelassen wird. Vor den wenigen Wandtexten sammeln sich meist mehr Besucher als vor den eigentlichen Werken. Auf den ersten Blick, scheinen die Texte den Werken Sinnhaftigkeit zu verleihen. Doch bei näherem Hinsehen erkennt man: je unterschiedlicher und vielfältiger die Werke, desto ähnlicher wirken die Texte. Fast scheint es so, als seien die theoretischen forciert wirkenden Erklärungen das einzige verbindende Glied zwischen der Vielfältigkeit der ausgestellten Kunst.