Ein Segen auf Schienen
Wie würde es heute im Westen des Landes aussehen, hätte am 5. Mai 2005 die Vinschger Bahn nicht wieder ihre Fahrt aufgenommen? Obwohl die Zweifel anfangs groß waren – Landeshauptmann Arno Kompatscher spricht von einem “Sprung ins Ungewisse”, den man 2005 gewagt habe –, ist man sich heute einig: Die 125 Millionen Euro, die in die Reaktivierung der seit 1990 stillgelegten Bahnstrecke investiert wurden, haben sich mehr als ausgezahlt, die Bahn ist nicht mehr wegzudenken.
Eine “Erfolgsgeschichte”, eine “Lebensader”, ein “Zugewinn für die Erreichbarkeit und damit die Attraktivität des Landes” – das ist die Vinschger Bahn für den Landeshauptmann, Mobilitätslandesrat Florian Mussner und den Präsidenten der Handelskammer Bozen, Michl Ebner, die am Montag Vormittag der Präsentation einer Studie beiwohnen, die das Institut für Wirtschaftsforschung WIFO der Handelskammer im Auftrag der Südtiroler Transportstrukturen AG STA durchgeführt hat.
Was hat die Vinschger Bahn konkret gebracht für Wirtschaft, Tourismus und Gesellschaft? Welche Bedeutung hat diese Infrastruktur aus sozioökonomischer Sicht für die westliche Landeshälfte? Diesen Fragen ist das WIFO nachgegangen und hat dazu im August und September 2016 insgesamt 27 Stakeholder der Vinschger Bahn befragt. Unter den Interviewten sind Vertreter des Tourismus, der Wirtschaft und der Bevölkerung des Vinschgau. “Insgesamt werden die Vinschger Bahn, ihre Auswirkungen und Impulse sehr positiv bewertet und die Beschleunigungspläne durchwegs befürwortet”, so das Fazit von WIFO-Direktor Georg Lun.
Die Rahmenbedingungen
Auf der 60 Kilometer langen Strecke zwischen Mals und Meran bewältigt die Vinschger Bahn 700 Meter Höhenunterschied. Sie fährt 18 Bahnhöfe und Haltestellen an, die Fahrtdauer beträgt derzeit 83 Minuten.
Mehr als zwei Millionen Fahrgäste nutzen die Vinschger Bahn jährlich. Im Jahr 2015 wurden mehr als ein Drittel der Entwertungen (35,5 Prozent) mit dem Abo+ gemacht, das Schüler und Studenten unter 27 Jahren verwenden. Mehr als ein Viertel (27,1 Prozent) der Entwertungen entfielen auf den Südtirol Pass, 14,2 Prozent auf die Mobilcard (für Touristen), 12,2 Prozent auf das Abo65+ (Senioren), die restlichen 11 Prozent auf Einzel- oder Tagesfahrkarten. Die Hauptnutzer der Vinschger Bahn sind also Schüler, Pendler und Touristen. Am häufigsten wird die Bahn in den Monaten August, September und Oktober genutzt, mit dem Höhepunkt im September.
Das Tal, das die Vinschger Bahn durchquert, ist eines der am wenigsten dicht besiedelten Gebiete Südtirols und galt bis zur Wiederinbetriebnahme der Bahn 2005 als schlecht in das öffentliche Verkehrsnetz eingebunden, wirtschaftlich strukturschwach und wies eine hohe Abwanderungsrate auf. Inzwischen ist die Vinschger Bevölkerung nicht mehr zurückgegangen, trotz niedriger Zuwanderung von Ausländern, die in Teilen des restlichen Landes für eine dynamischere Bevölkerungsentwicklung sorgt. Die Zahl der unselbstständig Beschäftigten ist im Vinschgau zwischen 2005 und 2015 um 21,5 Prozent gestiegen, die Arbeitslosenquote lag 2015 mit 4,5 Prozent deutlich unter jener auf Landesebene. “Ein Grund dafür sind sicher die Grenzpendler, die den Arbeitsmarkt im Vinschgau entlasten”, erklärt WIFO-Direktor Lun, “ein anderer Grund kann aber sicher auch im Effekt der Vinschger Bahn zu suchen sein, die ein Impulsgeber für die Wirtschaft und vor allem für den Tourismus ist”. Bei den Nächtigungen habe der Vinschgau in den vergangenen Jahren “sehr stark aufgeholt und inzwischen fast das Niveau des Burggrafenamtes erreicht”, so Lun.
Die Impulse
Die Bedeutung der Vinschger Bahn für den Tourismus bestätigen die vom WIFO befragten Stakeholder unisono. Als “Aushängeschild”, “Imageträger” und “Marketinginstrument” wird die Bahn bezeichnet.
“Tourismustreibende und -experten bestätigen: Der Trend geht eindeutig in Richtung autofreies Urlaubmachen”, berichtet Lun. Dabei werde die Bahn laut Aussagen der Befragten während des Aufenthalts sehr gut vom Gast angenommen und stark genutzt. Vor allem die Schweizer, die als Bahnfahrer schlechthin gelten und für den Vinschgau besonders wichtig sind, würden Bus und Bahn als umweltfreundliches Verkehrsmittel zum Standard zählen. Aus diesem Grund befürworten Vinschger Tourismusvertreter, aber auch Lokalpolitiker den Ausbau der Bahnlinie bis ins Schweizer Unterengadin.
“In der Wirtschaft herrschen ambivalente Positionen”, berichtet Georg Lun. Zum einen sehe insbesondere die Industrie die Bahn als vorteilhaft, da sie die Straße entlaste und den Verkehr flüssiger mache, “andererseits wird ihr eine zentrale Rolle für den Gütervekehr zugeschrieben, für den es derzeit aber kein Angebot gibt”. Darüber hinaus lägen nur wenige Gewerbegebiete direkt an der Bahnlinie und für Pendler nicht unmittelbar erreichbar.
Die Stimmen aus der Bevölkerung bestätigen: “Die Lebensqualität im Vinschgau ist mit der Reaktivierung der Vinschger Bahn sehr stark angestiegen”, liest der WIFO-Direktor aus der Studie. Als Alternative zum Privatauto sei die Bahn laut Studie deshalb beliebt, weil sie verlässlich, sicher und komfortabel sei, so Lun.
Doch inzwischen stößt man immer öfters an die Kapazitätsgrenze, für Landeshauptmann Kompatscher ist sie sogar “längst schon erreicht”. Daher gelte es, die Bahn weiterzuentwickeln, Stichwort: Elektrifizierung. “Die Hälfte der Arbeiten sind abgeschlossen”, bestätigt Landesrat Mussner. 2020 soll das Ziel, die Vinschger Bahn im Halbstundentakt ohne Umsteigen in Meran zwischen Bozen und Mals verkehren zu lassen, erreicht sein. Und die Verbindung in die Schweiz? “Mobilität kennt keine Grenzen”, schwärmt Florian Mussner, doch konkret hängt ein Ausbau der Vinschger Bahnlinie bis nach Scuol im Unterengadin im Kanton Graubünden nicht allein vom politischen Willen in Südtirol ab, sondern “von der Bewertung des Projektes durch die Schweizer Bundesregierung”, erinnert Arno Kompatscher. Momentan werde die Verbindung nach Südtirol als wenig prioritär eingestuft, da man in der Schweiz davon ausgehe, dass man selbst 70 bis 80 Prozent der Kosten von etwa einer Milliarde Euro übernehmen müsse. Allerdings stehe eine Co-Finanzierung durch die EU im Raum, betont der Landeshauptmann, “und diese Tatsache wird die Neubewertung, die derzeit läuft, sicher ändern”, zeigt er sich zuversichtlich.