Gesellschaft | salto Gespräch

“Die Pandemie als Katalysator”

Warum ist der Corona-Notstand für die westliche Welt so dramatisch? Woran rüttelt er? Antworten und Einschätzungen der Ethnologinnen Elisabeth Tauber und Almut Schneider.
Elisabeth Tauber & Almut Schneider
Foto: Privat

“Wir werden mit dem Virus leben müssen.” Mit Fortschreiten der Covid-19-Pandemie hielt diese Erkenntnis schleichend Einzug in den gesellschaftlichen Diskurs und die Rhetorik von Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Doch kann es tatsächlich ein “Leben mit dem Virus” geben? Oder ist es nicht vielmehr ein “Leben trotz des Virus”? Wie wird das Coronavirus sicher Geglaubtes verändern? Wie werden wir uns anpassen?

Antworten und Einschätzungen liefern Elisabeth Tauber und Almut Schneider. Beide sind an der Freien Universität Bozen tätig – Schneider zudem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main – und arbeiten als Ethnologinnen zu soziökologischen Beziehungen mit Land bei Gesellschaften in Ozeanien und Europa. Sie sagen: “Für zahlreiche nicht-westliche Gesellschaften ist ein solcher plötzlich auftretender Notstand weniger ungewöhnlich als für uns.”

 
salto.bz: Das Coronavirus hat auf einen Schlag vieles, das in westlichen Gesellschaften als sicher galt, in Frage gestellt: Grundfreiheiten, das globale arbeitsteilige kapitalistische Wirtschafts- und Konsummodell, die Selbstverständlichkeit, sich frei bewegen und reisen zu können. Müssen wir uns eingestehen, dass diese vermeintlichen Sicherheiten auch vor der Corona-Krise bereits brüchig waren?

Elisabeth Tauber & Almut Schneider: Rückblickend scheint es genau so zu sein. Vor Beginn der Corona-Krise haben diejenigen darauf hingewiesen, die in den vergangenen Jahren zunehmend durch die schnellen Veränderungen der Umwelt durch den Klimawandel alarmiert waren. Betroffene indigene Gemeinschaften, aus dem Amazonas, aus den Bergregionen Süd- und Mittelamerikas, den arktischen Gebieten, Südostasien, dem Pazifik und aus zahlreichen Ländern Afrikas haben in den letzten Jahrzehnten die unmittelbar bevorstehenden Gefahren aufgezeigt, die das westliche Wirtschaftssystem und der damit verbundene Umgang mit natürlichen Ressourcen für das ökologische Gleichgewicht und ganz konkret ihre Gesellschaften und ihre Lebenssituation haben. Viele Wissenschaftler in westlichen Ländern haben die Berechtigung dieser Warnungen bestätigt. “Fridays for Future”, “Extinction Rebellion” und andere Aktivisten bringen diese Themen verstärkt in das öffentliche Bewusstsein.

Als Ethnologinnen fügen wir dem hinzu, dass die Auffassung, Wirtschaft und Gesellschaft seien getrennte Bereiche, dass also Wirtschaft als ein unabhängiger Akteur betrachtet wird, in vielen Gesellschaften weltweit so nicht funktioniert. Das westliche System ist aus ethnologischer Perspektive die Ausnahme von der Regel. Es gibt zahlreiche Gesellschaftssysteme, in denen das Wirtschaften ein Teil eines großen zusammenhängenden Systems ist. So gehört zu den westlichen Grundfreiheiten eben auch das Prinzip des privaten Eigentums, und die damit verbundene Vorstellung, dass wir damit tun können was wir möchten. Im westlichen Verständnis sind wir also beispielsweise Besitzer von Land, während wir aus anderen Kulturen vielmehr das Prinzip des Hütens oder Pflegens von Land kennen. Dies zieht einen ganz anderen Umgang mit ökologischen Ressourcen und wirtschaftlichem Handeln nach sich.

In den Industriestaaten wird es mittel- und langfristig notwendig sein, die Wirtschaft anders in der Gesellschaft und der Umwelt zu verankern

Viele Menschen verspüren – vor allem aufgrund der anhaltenden Verbote in vielen Ländern – das Gefühl von Ohnmacht, Macht- und Hilflosigkeit. Wie kann es gelingen, sich kollektiv aus dieser Schockstarre zu lösen? Was hilft dabei?

Eine der unmittelbaren Reaktionen auf den “lock-down” waren spontan organisierte nachbarschaftliche Hilfsangebote und Solidaritätsinitiativen, die insbesondere Familien mit Kindern, Risikogruppen, Obdachlose und Geflüchtete in den Blick nahmen. Eine andere unmittelbare Reaktion waren Hamsterkäufe und das Horten von Nahrungsmitteln, was zeigt, dass offenbar die Angst bestand, dass solidarische Netzwerke vielleicht nicht greifen könnten. Ethnologisch betrachtet ist diese Situation sehr spannend, denn plötzlich werden Ressourcen für die Fürsorge für Andere frei, die vorher in ‘produzierenden’ Arbeitsprozessen absorbiert waren. Es wird aber ebenso deutlich, dass sich auch Konfliktfelder auftun. Eine ganze Bandbreite von sozialkulturellen Handlungen ist derzeit möglich.

 

Für zahlreiche nicht-westliche Gesellschaften ist ein solcher plötzlich auftretender Notstand – beispielsweise aufgrund von Naturkatastrophen, Hungersnöten oder Epidemien – weniger ungewöhnlich als für uns. In vielen dieser Gesellschaften greifen dann bereits etablierte Mechanismen, um die Familie und Menschen der unmittelbaren Umgebung zu schützen und zu unterstützen. Tägliche Aktivitäten werden auch dort in Krisensituationen verändert; allerdings zeigt sich hier dann auch, dass in diesen Gesellschaften kollektives Handeln mehr als bei uns zum kulturellen Selbstverständnis gehört.

Intime Momente, in denen Leid ebenso wie Freude geteilt werden, finden aufgrund der aktuellen Situation nicht statt. Wie verkraftet es eine Gesellschaft, eine Kultur, dass z.B. Beerdigungen oder Hochzeiten nicht laut den gewohnten Riten abgehalten werden können?

Im Laufe der Zeit wird die gesellschaftliche Wirkung der Corona-Krise vermutlich so weitreichend sein, dass sich menschliche Rituale und Verhaltensweisen an vielen Orten abwandeln. Das ist allerdings nichts Neues, denn Rituale und Verhaltensweisen leben in gewisser Weise davon, dass sie sich ständig verändern und an neue Gegebenheiten anpassen. Was wir wahrscheinlich in der nächsten Zeit verstärkt beobachten können ist lediglich ein schnellerer Entwicklungsschub solcher Veränderungen. Dazu gehören beispielsweise ein Wandel in den Begrüßungsformen, in den Geburts-, Heirats- und Trauerritualen. So war beispielsweise ein Schlüssel zur Eindämmung der Ebola-Epidemie in Westafrika zwischen 2013 und 2016 die Veränderung der langjährigen Traditionen im Umgang mit Toten, wozu auch das Berühren des Verstorbenen vor der Bestattung gehörte – eine rituelle Handlung, die nun unverantwortlich geworden war. Wir halten es aber auch für gut möglich, dass es in Folge der Corona-Krise mittelfristig zu Veränderungen in der Art und Weise kommen wird, wie wir unsere Wirtschaft führen. Angesichts der Klimakrise könnte dies eine der positiven Auswirkungen der gegenwärtigen Krisensituation sein.

Warum scheinen die Menschen in manchen Ländern besser mit den Kontaktverboten klar zu kommen als andere? Vielleicht, weil Körperkontakte in gewissen Regionen wie z.B. nordeuropäischen Ländern ohnehin nicht üblich ist?

Das könnte ein Grund sein. Ein anderer ist möglicherweise, dass andere Regionen der Welt, in Afrika oder Asien beispielsweise, mehr Erfahrungen mit Epidemien haben und ihre Verhaltensweisen bereits angepasst haben. Die körperliche Berührung bei Begrüßungen ist dort oft ungewöhnlich und wird auch deshalb als unhöflich oder leichtsinnig empfunden, weil sie gefährlich sein könnte. Unser “Körperwissen”, also was Körper als kulturelles Wissen abspeichern, kann sich aber sehr schnell an neue gesellschaftspolitische Umstände anpassen und tut dies seit jeher.  Viele kulturelle Unterschiede, die Ethnologen weltweit beobachten, hängen mit solchen Anpassungen an verschiedene geographische, klimatische oder eben epidemiologische Gegebenheiten zusammen. Möglicherweise können wir uns im Frühjahr 2021 schon nicht mehr vorstellen wie es war, unsere Freunde und Bekannten bei jeder Begrüßung zu küssen – und auch diese “Tradition” ist ja noch nicht sehr alt. Die Anpassungsfähigkeit von Menschen und Kulturen sollte also nicht unterschätzt werden.

Wir sehen die aktuelle Situation als einen “Probelauf” für systemische Veränderungen, die uns die ökologische Krise auch aufzwingen wird

Kann physische Distanz durch die Nähe, die wir über soziale Medien, Messenger-Dienste oder Videotelefonie versuchen herzustellen, wettgemacht oder zumindest kompensiert werden?

Menschen mit Migrationshintergrund, die als Diaspora über den Globus verteilt sind und Geflüchtete, die sich in den Ankunftsländern gerade neu orientieren müssen, machen diese Erfahrung der physischen Distanz schon seit Jahrzehnten. Die digitalen Entwicklungen haben es ihnen ermöglicht, ihre sozialen Netzwerke aufrecht zu erhalten. Für sie ist ein Smartphone oft das einzige, was sie mit ihren Herkunftsfamilien in Verbindung bleiben lässt, Migranten haben feste Termine für Online-Treffen, in denen sich die auf drei Kontinente verteilte Großfamilie regelmäßig sieht. Diese Form der Kommunikation ersetzt die körperliche Nähe nicht, aber sie ermöglicht Austausch, Information und das Aufrechterhalten sozialer Beziehungen. Als Ethnologinnen kennen und untersuchen wir kulturelle Kontexte, in denen beispielsweise Heiraten auch über Facebook stattfinden oder Familienfeste gefilmt werden, um sie im Netz mit denen zu teilen, die nicht dabei sein können.

Unsere gegenwärtige Situation stellt sich etwas dramatischer dar, weil wir uns noch nicht einmal in kleinen Gruppen treffen können, aber der Austausch über digitale Medien ist sicher eine enorme Ressource in diesem historischen Moment.

Großveranstaltungen und kulturelle Events wird es für längere Zeit nicht geben. Damit entfallen Momente des Zusammenkommens, Sich-Austauschens, des Erlebens von Gemeinschaft. Besteht dadurch die Gefahr, dass unsere Gesellschaft verarmt?

Ethnologen beschäftigen sich häufig mit Ritualen. Auch Rituale moderner Großveranstaltungen wie sportliche Wettkämpfe, Festivals oder Jahrmärkte werden auf ihre Abläufe, Strukturen und ihre Symbolik hin untersucht. Welche Art von Gemeinschaft wird hier hergestellt, wie bestimmt dies die Wahrnehmung von öffentlichem Raum, welche Ideen und Werte stehen im Vordergrund, welche Rolle spielt der Wettkampf, wie entwickeln sich Fangemeinden, wie strukturieren Großveranstaltungen die Zeitwahrnehmung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen? Ritualisierte Formen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, wie sie sich in diesen Arten von Veranstaltungen ausdrücken, werden sich den veränderten Gegebenheiten anpassen. Dies wird sicherlich nicht ohne Schwierigkeiten und Verzicht geschehen, möglicherweise werden aber auch neue Formen gefunden, die bisher nicht bekannte Qualitäten aufweisen. Veränderungen dieser Art können von keiner Regierung verordnet werden; vielmehr handelt es sich um einen gesellschaftlichen Findungsprozess.

So wie Migranten und Geflüchtete greifen auch wir jetzt zunehmend auf die digitale “Kontaktaufnahme” zurück und sind erleichtert

Immer wieder wird postuliert, die Krise könne als Chance genutzt werden. Inwieweit ist das aus Ihrer Sicht als Ethnologinnen möglich? Werden wir unsere Gesellschaft neu denken müssen, neue Modelle für das Zusammenleben und Zusammenwirken in verschiedenen Lebensbereichen – Familie, Freunde, Arbeit, Wirtschaften – entwerfen müssen?

In den Industriestaaten wird es mittel- und langfristig notwendig sein, die Wirtschaft anders in der Gesellschaft und der Umwelt zu verankern, denn es zeigt sich gerade in der gegenwärtigen Krise, dass die strukturelle Entkoppelung wirtschaftlichen Handelns vom Rest des gesellschaftlichen Lebens und der Ökologie katastrophale Auswirkungen hat. Aber vergessen wir nicht: Gesellschaften haben sich immer schon verändert, an neue Situationen angepasst, und häufig wurden diese Anpassungen durch Umweltkatastrophen wie Eis-/Wärmezeiten, Vulkanausbrüche oder Epidemien provoziert. Die gegenwärtige Situation steht in einer langen Tradition solcher, oft schwierigen, Umbrüche.

 

Wir sehen die aktuelle Situation als einen “Probelauf” für systemische Veränderungen, die uns die ökologische Krise auch aufzwingen wird. Die gegenwärtige Situation verlangt uns Handlungen ab, die sehr gut verdeutlichen, was umgehend möglich gemacht werden kann, wenn es den demokratischen Regierungen unerlässlich erscheint. Auch wenn verschiedenen Szenarien für staatliche Interventionen vorliegen, so werden die einzelnen Gesellschaften je nach politischer Ausrichtung unterschiedliche Modelle umsetzen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden rege Diskussionen zu zukunftstauglichen Modellen geführt, die theoretisch durchdacht und zum Teil praktisch entwickelt wurden. Auch innerhalb westlicher Gesellschaften gibt es genügend Beispiele lokaler Gemeinschaftsentwürfe, die krisentauglich, demokratisch und zukunftsfähig sind.

Das Coronavirus hat uns zu Veränderungen gezwungen: Abstand halten, alleine bzw. zu Hause arbeiten, weniger reisen u.a.m. Können Sie abschätzen, ob sich bestimmte Verhaltensweisen der Menschheit langfristig und nachhaltig ändern werden?

Wir wissen, dass die Geschichte der Menschheit aus solchen Veränderungen besteht. Große Umwälzungen gab es immer schon, und Menschen so wie auch nicht-menschliche Lebewesen wie Tiere und Pflanzen haben eine große Fähigkeit, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, sonst hätten Menschen, Tiere und Pflanzen gar nicht überlebt. Eine Pandemie kann also ein Katalysator für gesellschaftliche Umgestaltung sein. Man konnte während und nach der Ebola-Krise in Westafrika sehen, wie sich Gesellschaften relativ schnell dieser Situation angepasst haben, ohne ihre Identität zu verlieren. Während dieser Krise wurden die Quarantänemaßnahmen in vielen Dörfern und Städten von einer Reihe von Behörden und Institutionen, von Dorfvorstehern bis hin zu Jugend- und Fraueninitiativen durchgeführt, um im Angesicht der Situation die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse flexibler und pragmatischer erfüllen zu können. Das lokal organisierte Handeln auf Gemeindeebene war für die Eindämmung der Epidemie entscheidend und wurde nach deren Abflauen beibehalten.
Gesellschaften durchleben derzeit weltweit eine Phase tiefgreifender Verunsicherung und sind in neuer Weise auf ihre ökonomischen, ökologischen, intellektuellen, spirituellen und vor allem auch ihre sozialen Ressourcen verwiesen. In der gegenwärtigen Ausnahmesituation wird zum Beispiel deutlich, welchen Wert der am Gemeinwohl orientierte Einsatz von Pflegekräften, Ärzten, Lastwagenfahrern, Lehrern und Mitarbeitern im Supermarkt für das Funktionieren der gesellschaftlichen Infrastruktur hat.

Möglicherweise können wir uns im Frühjahr 2021 schon nicht mehr vorstellen wie es war, unsere Freunde und Bekannten bei jeder Begrüßung zu küssen

Alte Gewissheiten sind ins Wanken geraten und es drängt sich die Frage auf: Wer oder was kann künftig überhaupt noch für Halt und Zusammenhalt sorgen?

Wir würden die Frage etwas anders formulieren, nämlich: Welche neuen Formen des Zusammenhaltes, die jeweils kulturell unterschiedlich sind, werden sich entwickeln? Für uns interessant ist die Reaktion vieler, sofort nach Hause zu ihren Familien zu fahren. Wir haben das auch in Indien gesehen, wo Millionen Lohnarbeiter sich auf den oft sehr langen Weg in ihre Heimatdörfer gemacht haben. Auch in Europa wohnen plötzlich wieder Kinder bei ihren Eltern, obwohl sie bereits ausgezogen waren. Es scheint, als ob sich Menschen in Krisen auf länger bestehende Netzwerke besinnen, die ihnen offensichtlich mehr Sicherheit und Halt verleihen. Im Austausch mit Kollegen sehen wir auch, dass in vielen Orten weltweit der lokale Radius wieder mehr an Bedeutung gewinnt, zum Beispiel der Austausch mit den Nachbarn und das Angebot sich gegenseitig zu unterstützen. Gleichzeitig bleibt die globale Dimension bestehen, denn so wie Migranten und Geflüchtete greifen auch wir jetzt zunehmend auf die digitale “Kontaktaufnahme” zurück und sind erleichtert, dass wir unsere Verwandten und Freunde, die weit entfernt wohnen regelmäßig hören und sehen können. Diese neue Kommunikationsform wird sich vermutlich in den nächsten Monaten sowohl technisch als auch in ihrer sozialen Ausformung sehr viel schneller weiterentwickeln als bisher.

Schafft die Coronakrise trotz der aktuellen Distanz doch eine größere Verbundenheit, ein größeres Bewusstsein für ein Miteinander über Grenzen hinweg? Werden z.B. Menschen anderen Menschen im Alltag oder auf Reisen – sobald es wieder erlaubt ist – anders begegnen?

Quarantäne hat per definitionem mit Grenzen und Abgrenzen zu tun. Mit Grenzen haben sich die westlichen Staaten in den letzten Jahren intensiv beschäftigt – nur hat sich jetzt die Perspektive verändert. Wir sind gerade selbst in unserem Alltag von diesem Abgrenzen betroffen. Nur indem wir uns in sehr kleinen Radien abgrenzen, können wir Andere schützen. Dies ist eines der vielen Paradoxe, mit denen sich Gesellschaften derzeit auseinandersetzen müssen und zwar weltweit. In unserem aktuellen Verständnis von der Welt hebt sich das bisherige Prinzip von Grenzen gewissermaßen auf. Das ist ein Gedankenspiel, das uns auch zum Thema Reisen führt. Wahrscheinlich werden wir in den nächsten Monaten und Jahren das Überschreiten von Grenzen anders wahrnehmen, dazu gehört dann vielleicht auch die sozio-kulturelle Konstruktion von Innen und Außen sowie von eigen- und fremdkulturell.

Es scheint, als ob sich Menschen in Krisen auf länger bestehende Netzwerke besinnen, die ihnen offensichtlich mehr Sicherheit und Halt verleihen

Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft schwören die Menschen darauf ein, dass es ein “Zurück zur Normalität” geben wird. Kann überhaupt “alles so wie vorher” werden? Soll es das überhaupt bzw. wäre das in gewisser Weise nicht fatal?

Die Frage ist wohl, worin denn überhaupt die “Normalität” bisher bestand? Welche Normalität für wen? Wir sind versucht, uns zu fragen, in welcher Welt wir leben würden, wenn Regierungen auf andere globale Katastrophen – Krieg, Armut, Hunger oder auch geschlechtsspezifische Gewalt – mit solcher Kraft und einem solchen Tempo reagiert hätten. Ungewöhnlich an der jetzigen Krise ist, dass nationale Regierungen weltweit ausgesprochen schnell zu diesen drastischen Maßnahmen gegriffen haben. Das hat sicherlich damit zu tun, dass das Virus jeden erreichen kann, den Nachbarn, den Regierungschef, den Geflüchteten oder einen selbst. Weltweit sind also die Länder und Gesellschaften in ihrer Gesamtheit bedroht, nicht nur in ihren Teilen, wie etwa Kriegsparteien, Arme, Geflüchtete oder Frauen. Das Finden neuer, globaler Normalitäten kommt einer anthropologischen Umwälzung gleich und ist eine Frage von Jahren. Wir können nur hoffen, dass der Mut, die Kreativität und die Dynamik der weltweiten Reaktionen auf diese Krise in die anstehenden weitgehenden Umgestaltungen mit hinein wirken.

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Waltraud Mittich So., 26.04.2020 - 07:40

Sehr interessant! Mich hat vor allem der Gedankengang zu Grenzen und deren Wahrnehmung angesprochen. Ingeborg Bachmann, deren vorausschauende Fähig keiten ich in dieser Zeit anders und neu zu schätzen gelernt habe, hat dazu einen Vierzeiler geschrieben: Wir aber wollen über Grenzen sprechen/ Und gehn auch Grenzen noch durch jedes Wort/ Wir wollen sie aus Heimweh überschreiten/Und dann im Einklang stehn mit jedem Ort.

So., 26.04.2020 - 07:40 Permalink
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gorgias So., 26.04.2020 - 10:32

Als erstes frage ich mich, warum Tauber und Schneider im unisono sprechen? Haben beide deckungsgleiche Meinungen? Warum kann nicht jede mit eigener Stimme sprechen. Sind doch auch Interviews mit mehreren Partnern üblich in denen sie sich diese amical gegenüberstehen.

Auch spielt das Wirtschaftssystem nur zweitrangig eine Rolle. So entstehen neue Krankheiten durch Kontakt mit (Wild)tieren. Mit Umweltzerstörung hat diese Pandemie rein gar nichts zu tun, sondern höchstens mit der Globalisierung und da nur mit dem Personenverkehr.

Denn die Umwelt kann man auch für wirtschaftliche Zwecke zerstören ohne dass Handel betrieben wird. Sogar der Güterverkehr hat mit dieser Pandemie marginal zu tun. Stirbt der Virus doch nach ca. 8 Stunden außerhalb eines Wirts ab. Containerschiffe sind meist Wochen unterwegs.

Der Gütertransport im Binnenbereich läuft eh wie bisher in den Bereichen in denen der Detailhandel nicht geschlossen hat. Ich kann im Supermarkt keine Änderungen im Sortiment feststellen. Mein Lieblingskaffee ist gerade im Sonderangebot. Das würde er kaum sein, wenn man mit langfristigen Lieferengpässe rechnen würde. Und die Sojasoße ist auch noch nirgends ausgegangen.

An der globalen Arbeitsteilung wird sich kaum etwas ändern, als dass man sich politisch darauf besinnen wird, bestimmte strategische Güter selbst zu produzieren. So ist es in den USA dem Militär gesetzlich verboten Waren von ausländischen Anbietern zu kaufen. Etwas analoges könnte man sich auch in der EU vorstellen, wo es Gesundheitseinrichtungen nicht mehr möglich sein wird bestimmte medizinische Produkte aus dem EU-Ausland zu beziehen. Die Masken werden dann ein paar Cent mehr kosten. Dafür ist man nicht mehr von dritten Abhängig.

Was sehr stark abnehmen werden sind Geschäftsreisen. Diese lassen sich meistgehend durch Videokonferenzen ersetzen. Unternehmen wollen nicht das Risiko eingehen, dass die Produktion unnötig zum Stillstand kommt. Der PR-Schaden für ein Unternehmen im Post-Corona Zeitalter eine Infektionskrankheit aus dem Ausland einzuschleppen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Bei Privatreisen wird es nicht so drastisch sein.

Die Vergleiche mit jenen in Afrika hinken an mehreren Punkten. Covid-19 ist in keiner Weise mit Ebola vergleichbar, das eine Letalität bis zu 90% hat. In Afrika ist der Anteil der Subsistenzwirtschaft weitaus höher und ermöglich es Gemeinschaften sich weitgehen zu Isolieren. Auch sind diese Grundsätzlich stärker selbstorganisiert und Verantwortungsträger aus dieser Gemeinschaft, sind in ihrer Rolle entscheidend für Anpassungen, während es bei uns nationale und Institutionen auf Landesebene sind, was zu einer weit geringeren Verankerung ins kollektive Bewusstsein neuer Praxen führen wird.

Soziokulturell wird sich wahrscheinlich kaum was ändern. In ca. 2 Jahren wird die Mortalität des Corona-Virus dank Durchseuchung und/oder Impfung/Therapie mit jene der Influenza vergleichbar sein. Menschen die sich Jahrzehnte lang die Hand gegeben haben, werden es wieder anfangen zu tun. Wer zu Arbeit pendeln muss, wird es weiterhin tun. Eine der wenigen Entwicklungen wird die Digitalisierung der Arbeitswelt/Home Office sein. Diese Änderung wird nachhaltig sein. Nicht wegen des Coronavirus, sondern weil es bereits eine angehende Veränderung war, die durch dieses Ereignis lediglich beschleunigt wurde.

So., 26.04.2020 - 10:32 Permalink
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Karl Trojer So., 26.04.2020 - 11:15

Danke für diese Überlegungen und Vorschläge. Ich denke, dass wir uns auf einige prioritäre Ursachen und Lösungen beschränken sollten die als wesentlich erkannt werden; ansonsten verlieren wir uns mit viel Aufwand in einem Durcheinander von Details. In diesem Artikel wurde m.E. als die zentrale Frage jene nach dem Zusammenhang von Gesellschaft und Wirtschaft gestellt. Die Frage erscheint auch mir als prioritär im Bedarf nach Lösungsfindung. Dabei gilt es die beiden Begriffe "Gesellschaft" bzw. "Wirtschaft" auf nachhaltige, d.h. zukunftsfähige Weise zu verstehen. Dazu ein paar Gedanken:
Zur "Gesellschaft":
- unsere menschliche Gesellschaft darf nicht weiterhin als "Summe von Individuen" verstanden werden, sondern vielmehr als ein lebendiger "Organismus", dessen "Zellen" die Individuen sind;
- unsre Gesellschaft muss sich vom gegenseitigen sich Übervorteilen zu einem solidarischen Handeln im gegenseitige Respekt und bei Wertschätzung der Verschiedenheiten entwickeln;
- die Gleichberechtigung und -Behandlung von Frau und Mann sind auf allen Ebenen, auch in den Religionen (Katholizismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus ecc), ehestens umzusetzen;
- die Existenznot Bedürftiger ist durch angemessene, von der Gemeinschaft garantierte Grundeinkommen zu begegnen;
- antidemokratische und rassistische Aktivitäten sind zu orten und rechtzeitig gerichtlich effizient und gesetzlich umfassend zu unterbinden;
- dem Konsumrausch ist zukunftsfähige Lebensqualität für alle Menschen udn Schonung der Resourcen entgegenzustellen und massiv mit fairen Werbemethoden zu propagieren.
Zur "Wirtschaft":
- Realwirtschaft und Finanzwirtschaft verfolgen ganz unterschiedliche Ziele und bedienen sich völlig unterschiedlicher Methoden. Deshalb ist es unbedingt notwendig, sowohl im medialen Dialog darüber, als auch im gesetzlichen Umgang mit diesen beiden Arten, verschieden angemessene Wege zu beschreiten. Derzeit treibt die globale Finanzwelt die Realwirtschaft und ganze Volkswirtschaften mit Casino-Charakter vor sich her; um dies zu unterbinden bräuchte es, vorerst zumindest EU-weit, zwei Maßnahmen: a) der Wiederverkauf von Wertpapieren im 1/1000-Sekunden-Rhytmus ist durch Einführung einer Pause von 2 Tagen zu unterbinden, und b) der Transfer von Wertpapieren ist angemessen empfindlich zu besteuern;
- Geschäfte die übers internet abgewickelt werden, sind mit denselben Steuern zu belegen wie sie der Realhandel, dort wo der Kauf umgesetzt wird, zu tragen hat;
- die regionalen Kreisläufe von Waren und Finanzwerten, sowie die Kooperation und Vernetzung von Klein-u-Mittelbetrieben sind viel stärker als bisher zu fördern;
- die gesamte Wirtschaft und Innovationen sollten nur dann Förderungen erhalten, wenn sie sowohl gemeinwohlorientiert wirken, als auch zum Klima- und Umweltschutz beitragen; ansonsten sollten sie angemessen zusätzlich besteuert werden.

So., 26.04.2020 - 11:15 Permalink
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gorgias So., 26.04.2020 - 13:24

Antwort auf von Karl Trojer

>- unsere menschliche Gesellschaft darf nicht weiterhin als "Summe von Individuen" verstanden werden, sondern vielmehr als ein lebendiger "Organismus", dessen "Zellen" die Individuen sind;<

Volkskörper?

>- unsre Gesellschaft muss sich vom gegenseitigen sich Übervorteilen zu einem solidarischen Handeln im gegenseitige Respekt und bei Wertschätzung der Verschiedenheiten entwickeln;<

oder wie Kaiser Robert I. sagt: "Ihr müßt auch a bisl brav sein."

>- die Gleichberechtigung und -Behandlung von Frau und Mann sind auf allen Ebenen, auch in den Religionen (Katholizismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus ecc), ehestens umzusetzen;<

Dann fangen wir mal damit an die Verfassung anzupassen:
art. 7
"lo Stato e la Chiesa cattolica sono, ciascuno nel proprio ordine, indipendenti e sovrani"
->
"lo stato è un proprio ordine, indipendente e sovrano da ogni istituzione religiosa"

und wenn wir schon dabei sind. Brauchen wir die Kirchensteuer? Wenn es darum geht Gutes zu tun, kann die katholische Kirche doch für die entsprechenden Projekte einen Onolus gründen. Wenn jemand es gerne hat, dass sein Geld für Bischofsstäbe und Sultanen ausgegeben wird, der kann doch aktiv der Kirche spenden.

So., 26.04.2020 - 13:24 Permalink