Armut. Kommt die Hilfe auch an?
“Corona hat unsere Situation dramatisch verschlechtert,” erzählt Melanie Agoste aus Bozen. Mit zwei Kindern im Haus wissen sie und ihr Mann, –beide seit der Pandemie arbeitslos–, nicht mehr, wie sie für Lebensmittel und Miete aufkommen sollen. Melanie arbeitete als Zimmermädchen immer wieder in befristeten Arbeitsverträgen. Seit März findet sie keine Anstellung mehr. So auch ihr Mann, der als Hausmeister für einen Gastbetrieb angefangen hätte; der Job fiel wegen des Lockdowns ins Wasser.
Melanies Geschichte zeigt: Armut sind nicht nur Fernsehbilder und Geschichten von hungernden Kindern in einer Realität, die uns Südtiroler nicht oder nur indirekt betrifft. Auch in Südtirol sind Familien und Einzelpersonen von Armut betroffen. Wer wird an die Armutsgrenze gedrängt? Und finden diese Menschen finanziellen Halt im existierenden sozialen Netz?
Wer ist armutsgefährdet?
17,5 Prozent der Südtiroler Bevölkerung sind armutsgefährdet. Was im internationalen und nationalen Vergleich – in Italien sind es 27,3 Prozent – relativ wenig ist, ist in absoluten Zahlen erschreckend. Eine von fünf in Südtirol lebenden Personen ist armutsgefährdet, das heißt: Sie lebt in einem Haushalt, dessen Einkommen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt. 2018 betrug das Durchschnittseinkommen der Südtiroler Haushalte etwa 21.700 Euro jährlich. Somit verharren jene Haushalte, die pro Jahr weniger als 13.000 Euro verdienen, – per Definition – an der Schwelle zur Armut.
“Es ist wirklich erschreckend zu sehen, wie viele Menschen in Südtirol von der Hand in den Mund leben”, so der Leiter des Sozialsprengels Bruneck, Hans Mitterhofer.
Konkret bedeutet das: rund 38.400 Haushalte in Südtirol leben in relativer, manche sogar in absoluter Armut. In ersterem Fall verdienen Familien nicht genug, um gesellschaftlich prägende Tätigkeiten auszuüben. Sie sind beispielsweise von bestimmten Freizeitaktivitäten abgeschnitten oder können sich den Urlaub nicht leisten. Im zweiten Fall fehlt das Geld für lebensnotwendige Güter wie Essen, Wohnung und Kleidung.
Tendenz steigend
Der Pandemie-bedingte Lockdown verschärft die Tendenz, dass immer mehr Menschen durch Arbeitsverlust und prekäre Arbeitsverhältnisse an die Armutsgrenze gedrängt werden. Das bestätigen auch die Beobachtungen von Hilfsorganisationen vor Ort. So erzählt Sabine Eccel, Leiterin des VinziMarkts, dass vermehrt Familien bei der Lebensmittelvergabe erscheinen, die aufgrund der Pandemie ihre Arbeit verloren haben oder in Lohnausgleichskasse sind. Auch bei der Caritas melden sich laut dem Leiter der Schuldnerberatung, Stefan Plaickner, immer mehr Familien, die kurz- und mittelfristig in finanzielle Engpässe geschlittert sind. “Die Anfragen für finanzielle Unterstützung sind von 25 auf 50 Prozent gestiegen. Früher wandten sich Menschen stattdessen eher mit Beratungsanliegen an uns,” so Plaickner.
Bei den öffentlichen Institutionen konnte ebenso eine Verschiebung der Antragsteller sowie eine Zuspitzung der Situation wahrgenommen werden. Viele wenden sich zum ersten Mal an die Sozialsprengel des Landes. Andere, die schon länger von den Sozialsprengeln begleitet werden, befinden sich in einer verschärften Situation und haben zusätzliche Hilfe nötig. Nicht nur finanzielle, sondern auch psychologisch und organisatorisch unterstützende Hilfe.
Ein wichtiger Grund dafür, dass immer mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen sind, ist der Verlust an Arbeitsplätzen. Wie aus den Berechnungen des Arbeitsförderungsinstituts (AFI) hervorgeht, vermelden die Liste der arbeitslosen Personen 2020 einen Zuwachs von knapp 40 Prozent. Allein im Gastgewerbe, dem am stärksten betroffenen Sektor, gingen beinahe 6500 Arbeitsplätze verloren. Besonders betroffen sind befristet Beschäftigte und Saisonarbeiter. Bei Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft fiel der Arbeitsverlust deutlich höher aus (12 Prozent) als bei italienischen Beschäftigten (2 Prozent).
Das Landesstatistikinstitut (ASTAT) erwartet jedoch keinen nennenswerten Zuwachs der armutsgefährdeten Personen in Südtirol. Werden spezielle Fördermaßnahmen wie Lohnausgleichkasse, Arbeitslosengeld und Covid-19 Hilfestellungen in der Rechnung berücksichtigt, so könnte die Zahl der armutsgefährdeten Personen 2020 stabil bleiben.
Hier muss jedoch gesagt werden, dass die von der Pandemie schwer getroffenen Monate November und Dezember in den Berechnungen der ASTAT nicht aufscheinen. Hinzu kommt: Die Daten der ASTAT stellen eine Simulation und nicht die tatsächliche Lage dar. Die Simulation beruht auf der Annahme, dass die Fördermaßnahmen auch tatsächlich bei all jenen, die diese nötig haben, zeitgerecht ankommen.
In manchen Fällen reichen die Hilfen aber nicht aus oder lassen auf sich warten. Das trifft vor allem jene Menschen schwer, die auf keine Reserven zurückgreifen können. “Es ist wirklich erschreckend zu sehen, wie viele Menschen in Südtirol von der Hand in den Mund leben”, beschreibt der Leiter des Sozialsprengels Bruneck, Hans Mitterhofer, die Situation.
Kommt die Hilfe auch an?
“Es kommen auch viele ausländische Familien, bei denen die Eltern normalerweise als Saisonarbeiter im Gastgewerbe tätig sind und deren Kinder in Südtirol zur Schule gehen zu uns. Diese tun sich besonders schwer; schwer, Hilfe zu suchen, aber auch diese tatsächlich zu finden”, gibt Doris Bergmeister, die als Verstärkung im Sozialsprengel Gröden mithilft, zu bedenken. Der Sozialsprengel unterstützt die Familien bei der Antragstellung, aber Sprachbarrieren und bürokratische Schwierigkeiten machen die Arbeit nicht einfach. Außerdem können sich die oft mehrköpfigen Familien von der öffentlichen Hand nur die Covid-Soforthilfe und die außerordentlichen Beihilfen für Miet- und Wohnnebenkosten erwarten. “Das wird wohl nicht reichen”, gibt Bergmeister zu bedenken “vor allem dann nicht, wenn die Unterstützung Ende März ausläuft”. Der Leiter des Sozialsprengels Bruneck ist zuverlässiger: “Bedürftige können sich von der öffentlichen Hand konkrete finanzielle Hilfen erwarten, das sind keine 'Spiccioli’. Und wenn die Unterstützung nicht reicht, führen wir die Betroffenen mit gemeinnützigen Organisationen zusammen, der Caritas oder dem Vinzenzverein beispielsweise.”
Auch die Hilfe der privaten gemeinnützigen Organisationen kommt nicht ganz ohne Bürokratie aus. Um zu gewährleisten, dass finanzielle Unterstützung jenen Menschen zugute kommt, die sie brauchen, führt die Caritas mit den Antragstellenden eine Reihe von Gesprächen. “Je nach Situation fragen wir Lohnstreifen, Schuldensituation oder Bankbewegungen an,” erklärt Plaickner. Die dadurch entstehenden bürokratischen Hürden, führen in manchen Fällen aber dazu, dass dringend benötigte Hilfe auf sich warten lässt.
Viele der am stärksten betroffenen Familien lebten vor der Pandemie schon in prekären Verhältnissen.
Melanie Agoste beklagt dieses Vorgehen: “Ich verstehe, dass es ein gewisses Maß an Kontrolle braucht, damit nicht jeder einfach Gelder bekommt. Aber es dauert zu lang und die Hürden sind zu hoch.” Die Caritas helfe ihnen zwar, aber der Aufwand sei in ihrer Situation unverständlich und nur schwer zu ertragen. Was die öffentliche Unterstützung betrifft, hätte Agoste zwar Hilfen angefragt, die dafür nötigen Konditionen aber nicht erfüllen können. Zudem sei auch die Antragstellung schwierig: “Die Rechtslage ist unsicher, unklar formuliert und wird immer wieder verändert. Ich verstehe nicht, unter welchen Bedingungen die Gelder beantragt werden können.”
Nicht Bürokratie, aber Scham und fehlende Strukturen
Plaickner sieht nicht so sehr die Anzahl der Unterlagen und den bürokratischen Aufwand als Hürde als die Scham: “Viele tun sich schwer, damit umzugehen, dass sie den Lebensunterhalt für die eigenen Kinder nicht mehr finanzieren können. Gefühle von Versagen, Hilflosigkeit und Schuld spielen dabei leider immer wieder eine große Rolle.”
Ein weiteres Problem liegt darin, dass manche nicht wissen, wohin sie sich wenden können, beispielsweise um Lebensmittelspenden zu erhalten. Einige, die erst seit Kurzem in die Bedürftigkeit gedrängt wurden, kennen die Anlaufstellen nicht; andere wohnen in kleineren Orten, wo die dafür nötigen Strukturen manchmal fehlen. Dabei ist die Vergabe von Lebensmitteln der wohl direkteste Weg, um an konkrete Hilfe zu kommen. “Bei uns wird niemand mit leeren Händen weggeschickt”, meint Sabine Eccel vom VinziMarkt. “Die Verteilung wird zwar nach dem Einkommen der Familien berechnet, aber auch wer nicht über die nötigen Unterlagen verfügt, bekommt Essen von uns”.
Wie aber jenen helfen, die die gegebenen Strukturen nicht aufsuchen können oder möchten? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Es gilt hier neue Wege zu finden – öffentlich, gemeinnützig und vielleicht auch im Privaten. Wenn die Initiative um #Zomholten auch in Kritik geraten ist, so konnte sie doch zeigen, wie vielen die Bedürftigkeit ihrer Mitmenschen am Herzen liegt. Darauf können sowohl Politik als auch private Organisationen aufbauen.
Wer die Folgen der Armut trägt
Ein Bild ergibt sich aus den Gesprächen mit denjenigen, die tagtäglich an der Armutsfront arbeiten: Viele der am stärksten betroffenen Familien lebten vor der Pandemie schon in prekären Verhältnissen – Saisonarbeit, kleinere Gelegenheitsjobs, befristete Verträge. Während Menschen in stabilen Arbeitsverhältnissen sich aus finanziellen Notlagen oft recht schnell wieder erholen können – ein paar Monate ohne Einkommen oder in Lohnausgleichskasse werden mit Rücklagen gedeckt – schlittern jene, die vor der Pandemie bereits in prekären Arbeitsverhältnissen lebten, schnell in eine Langzeit-Armut.
Die vorhandenen Hilfestellungen können nicht alle erreichen und reichen nicht immer aus, um Bedürftige gebührend unterstützen zu können. Vor allem aber schränken die Schwierigkeiten, denen Menschen in finanziellen Notsituationen gegenüberstehen im täglichen Leben ein, können krank machen, zerstören das Selbstbewusstsein und wirken sich negativ auf soziale Kontakte, sowie Bildungs- und Erwerbschancen aus. Wie sich die Situation nach der Aufhebung des Kündigungsschutzes entwickeln wird, wie eventuelle Langzeitfolgen psychischer Belastung sich auf Armut auswirken werden bleibt abzuwarten.
Doch ein Ziel sollte bleiben, wie Melanie Agoste treffend sagt: “Ich wünsche mir Unterstützung. Wir sind nicht schuld an der Pandemie. Wir müssen jetzt alle an einem Strang ziehen."
Unglaublich! So viel zum viel
Unglaublich! So viel zum viel gepriesenen "reichen" Südtirol.
Wichtig auf JEDEN Fall die
Wichtig auf JEDEN Fall die Mieten und Eigenheimpreise ins endlose treiben....dann bleib wohl nichts mehr übrig!
Diese Not ist himmelschreiend
Diese Not ist himmelschreiend und für unsere reiches Land beschämend... Es bedarf dringend einer unbürokratischen, zentralen Koordinierungsstelle des Landes, die u.a. permanent über Medien und Plakatdienste mitteilt, wo, wann welche Hilfe zu erhalten ist. Der Erhalt dieser Hilfen müsste m.E. ohne bürokratische Hürden und unverzüglich erfolgen. Das Risiko, dass der/die Eine oder Andere daraus unberechtigten Vorteil zieht, ist verhältnismäßig klein und müsste eingegangen werden.
Muss aber auch hinzufügen das
Muss aber auch hinzufügen das niemand Arbeit verwehrt bleibt, etwas "gab" es immer..