Karl Tragust: "Mehr Mut bei Flüchtlingspolitik"
Herr Tragust, wie schauen Sie auf den derzeitigen Ansturm von Flüchtlingen auf Europas Küsten mit Ihrer Erfahrung als Flüchtlingsbeauftragter für Nordafrika?
Karl Tragust: Nun, der Notstand wenn man so will ist zum Dauerzustand geworden. Denn in den Jahren 2011 und 2012 sind über 40.000 Personen nach Italien gekommen, jetzt sind es allein in diesem Jahr schon viel mehr. Damals wurde die sogenannte "emergenza" ausgerufen, um mit der Flüchtlingssituation zurecht zu kommen. Es gab die Libyen-Krise und aus diesem Grund war der Zustrom auch extrem. So wurde der Zivilschutz gewählt, um die Situation zu bewältigen, denn dieser verfügt über eine kapillare Vernetzung in Regionen und Gemeinden und kann sehr flexibel reagieren. In Südtirol haben dann Zivilschutz und Sozialwesen sehr gut zusammengearbeitet.
Wer kam denn damals hauptsächlich nach Italien?
Jene die nach Italien kamen, waren vor allem Schwarzafrikaner; die Krise in Libyen war voll ausgebrochen und so traf es in erster Linie die dort beschäftigten Gastarbeiter. Diese kamen zwischen alle Fronten, weil man vermutete, dass einige von ihnen als Söldner für Gheddafi arbeiteten; sie wurden angefeindet und auch als Faustpfand gegen Europa missbraucht.
Natürlich sind sie geflüchtet und später wurden sie sogar vertrieben. Italien hat damals über Berlusconi mit Gheddafi ein besonderes Abkommen getroffen, also eine Summe gezahlt, um sicherzugehen, dass diese Leute im Land bleiben. Dieser Schutz, diese Hürde ist durch den Fall von Gheddafi außer Kraft gesetzt worden und so ging der Flüchtlingsstrom ungebremst weiter. Heute gibt es diese Abschottung aufgrund von Zahlungen vonseiten Italiens nicht mehr, die Grenzen sind durchlässiger, es gibt auch das restriktive Gesetz nicht mehr, das jene unter Strafe stellt, die den Bootsflüchtlingen helfen, aber vor allem gibt es nach wie vor Kriegsschauplätze und Hunger in Nahost und Afrika.
Jede Region hat eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen übernommen, im Fall von Südtirol waren das gemäß Bevölkerungsanteil Südtirols an der Staatsbevölkerung 0,9% der ankommenden Flüchtlinge.
Hat es damals auch eine Kontingentierung gegeben?
Das war ein ganz wichtiges Element, um den Flüchtlingsstrom in den Griff zu bekommen. Staat und Regionen haben sich auf einen Verteilungsplan geeinigt, jede Region hat eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen übernommen, im Fall von Südtirol waren das gemäß Bevölkerungsanteil Südtirols an der Staatsbevölkerung 0,9% der ankommenden Flüchtlinge, also ungefähr 200 Personen, die auf die Häuser Flüchtlingszentren in Bozen, Meran und Vintl verteilt wurde. Das was jetzt in Italien passiert, bedarf einer erneuten geballten großen Anstrengung und einem von Staat, Regionen, Gemeinden und Non-Profit-Organisationen gemeinsam getragenen von zentraler Hand gesteuerten Maßnahmenbündel, wobei die Regie und Finanzierung des Ganzen beim Staat liegt; was derzeit fehlt, ist ein wirklich koordiniertes Vorgehen des Staates gemeinsam mit den Akteuren auf regionaler und lokaler Ebene.
Für den Notstand Nordafrika war ich Flüchtlingsbeauftragter des nationalen Zivilschutzbeauftragten für Südtirol und ich habe größten Wert darauf gelegt, eng mit allen Institutionen zusammenzuarbeiten. Ich habe einen Koordinierungstisch eingerichtet, an dem regelmäßig die betroffenen Gemeinden und Bezirksgemeischaften, die Präfektur, die Caritas und Volontarius sowie die Sanitätsbehörde und alle anderen Ämter und Behörden (Arbeitsämter, Sprachkurse usw teilnahmen, diese Plattform war ganz wichtig. Ich bin nicht für die Wiederholung des Modells von 2011, aber das ständige koordinierte Vorgehen ist sehr wichtig.
Wer sind heute die Ansprechpartner für Flüchtlingsfragen auf lokaler Ebene?
Das Innenministerium auf staatlicher Ebene und sonst das Regierungskommissariat bzw. die Präfektur, also die Polizeibehörde. Zur Zeit spüre ich aber wenig Präsenz und wenig miteinbeziehende Koordination. Mir scheint, dass das Thema Flüchtlinge in seiner Komplexität und Bedeutung zu wenig in der Öffentlichkeit aufgegriffen wird. Wenn Flüchtlinge kommen, dann wird das immer nur sehr kurz vorher mitgeteilt, man erfährt kaum etwas. Das Problem wird derzeit einfach als heiße Kartoffel behandelt und von hier nach dort gewälzt. Der Staat nimmt seine Verantwortung halbherzig wahr und die Regionen wollen sich auch nicht die Finger verbrennen.
Nur die offene Auseinandersetzung schützt uns und die Migranten. Da müsste die Politik mehr Mut beweisen.
Nun soll es eine Kontingentierung geben, was sagen Sie zu den eben von Innenminister Alfano beschlossenen Maßnahmen?
Das ist der richtige Schritt: der Staat muss die Flüchtlinge in Absprache mit den Regionen aufteilen, aufgrund objektiver Parameter (Bevölkerung, soziale und Ökonomische Situation), das Versorgungsniveau definieren, die Asylanträge schnell entscheiden und die Finanzierung sichern.
Verglichen mit den Nachbarn in Tirol, wie steht Südtirol da und könnte auch eine Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino eine eigene Aufgabe übernehmen?
Südtirol ist ein Grenzgebiet und hat insofern viel Durchreiseverkehr, natürlich kommen auch Flüchtlinge über diesen Weg nach Norden. Denn viele der in Italien gelandeten Migranten wollen sofort weiter, weil sie dort Familie und Freunde haben. Das Dubliner Übereinkommen besagt leider nach wie vor, dass Flüchltinge dort um Asyl ansuchen müssen, wo sie ankommen, also eben Italien. Natürlich macht das Flüchlingsphänomen die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg notwendig, das ist sogar unbedingt erforderlich. Ich habe mich mit meinen Trentiner und Tiroler Kollegen in Sachen Flüchtlingswesen getroffen und wir haben unsere verschiedenen Aufgabenbereiche und Praktiken verglichen. Wie geht etwa Österreich mit der Kontingentierung um, dort müssen die Bundesländer sogar eine Strafzahlung verrichten, wenn sie weniger Migranten aufnehmen als im von Bund und Ländern vereinbarten Abkommen vorhergesehen. Die Mitverantwortung der Länder dort ist gegeben. Solch ein Austausch zwischen den Regionen ist sehr wertvoll, man kennt sich, gibt sich Tipps, man weiß wen anrufen im Fall. Ein solcher Austausch kann auch im Rahmen der Euregio sehr wertvoll sein. Nicht zu vergessen: das Bundesland Tirol versorgt wesentlich mehr Asylanten als Südtirol.
Wie lauten Ihre Prognose und Ihr Blick auf die nähere Zukunft?
Der Flüchtlingsstrom ist lange schon Normalität geworden, denn 2 Milliarden Menschen auf der Welt hungern und also wird es weiter Wanderbewegungen in Richtung der Wohlstandsländer geben. Wir müssen uns vorbereiten, das bedeutet, ganz offen darüber reden, offen und sachlich. Nur die offene Auseinandersetzung schützt uns und die Migranten. Da müsste die Politik mehr Mut beweisen. Denn das Tiefhalten von dem Ganzen, das Nicht-Darüber-Reden ist eine Schwächung der lokalen Bevölkerung und auch der betroffenen Personen.
Mit direkte Demokratie über
Mit direkte Demokratie über Asylanten, oder so was ähnliches wir in unser Tiroler Nachbargemeinde Gries am Brenner Schindel getrieben: siehe http://www.tt.com/politik/landespolitik/8685589-91/grieser-befragung-so…