Mönch, Mensch, Mitgefühl
„Sie sehen so alt aus, diese Berge“, fand Lobsang Phuntsok, als er zum ersten Mal den Sassongher ansah. „Unser Gebirge dagegen, der Himalaya, ist viel jünger. Er wächst noch.“ Lobsangs Worte brachten mich zum Nachdenken, denn unter diesem Aspekt hatte ich unsere Berge noch nie betrachtet. Dabei sehe ich sie jeden Tag und jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe. „Du hast recht“, sagte ich. „Unsere Dolomiten sind alt und bröckeln bereits.“ Je öfter ich sie seither ansehe, desto stärker spüre ich dieses von Lobsang erahnte Alter, die lange Geschichte, die diese Berge zu erzählen habe, die Weisheit, die sie ausstrahlen.
Lobsang ist ein ehemaliger buddhistischer Mönch und Gründer der Jhamtse Gatsal Children’s Community im Himalaya, genauer gesagt im indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh. Die Community liegt im sehr abgelegenen Bezirk Tawang, wo heute etwa 50.000 Monpa leben, eine tibetanische ethnische Minderheit, die schon lange vor der chinesischen Besetzung Tibets nach Indien ausgewandert war. Die Monpa sind Tibeter in einem Gebiet Indiens, das von China beansprucht wird. In Tawang und überhaupt in Arunachal Pradesh sind daher Spannungen und eine massive Präsenz des Militärs auf beiden Seiten, das „seine“ Grenzen verteidigen möchte, an der Tagesordnung.
Lobsang hatte eine äußerst schwere Kindheit. Er war ein ungewolltes Kind, wurde von seinen Eltern vernachlässigt, wuchs bei den Großeltern auf und wurde dann zum Lernen in ein Kloster in Südindien geschickt. Später ging er nach Amerika, um dort buddhistische Philosophie zu unterrichten. Dort entstand sein Wunsch, wieder in die Heimat zurückzukehren und etwas Gutes für die Gemeinschaft dort zu tun. So kam es, das Lobsang das Kinderheim Jhamtse Gatsal eröffnete, was in der Sprache der Monpa „Garten der Liebe und des Mitgefühls“ heißt. In Jhamtse Gatsal werden Kinder aus sehr schwierigen Familienverhältnissen aufgenommen, Waisen, Gewalt- und Missbrauchsopfer und andere Kinder, die einfach sich selbst überlassen wurden. Hier finden sie eine Heimat, eine Familie und eine Erziehung. Und das für ihr ganzes Leben. Denn wenn die Gemeinschaft ein Kind aufnimmt, übernimmt es Verantwortung für dieses Kind, so lange es Hilfe braucht, und ist auch dann da, wenn es später in der Zukunft wieder einmal Hilfe brauchen sollte, ganz wie in einer echten Familie. Die Kinder werden aufgenommen und mit Geduld, Beharrlichkeit und jeder Menge Liebe gelenkt, geleitet, begleitet. Lobsang ist sich sicher: Traumen aller Art, psychologische Probleme, Ängste und Phobien können nur mit Liebe und Mitgefühl geheilt werden; es braucht dazu keine Psychologen, Psychiater und andere Experten. Und nach zwölf Jahren, die es die Gemeinschaft jetzt schon gibt, hat er auch die Bestätigung dafür: Obwohl fast jedes Kind einen traumatischen Hintergrund mitbringt, hat es bisher in Jhamtse Gatsal noch keinen einzigen Einsatz von spezialisierten Therapeuten gebraucht, nicht einmal bei den ganz schwierigen Kindern. Ein einziges Mal hat Lobsang eine Psychologin im Haus geduldet, zu Forschungszwecken und unter einer ganz konkreten Bedingung. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder etikettiert werden, ich will nicht, dass es heißt: Dieses hier leidet unter x und das hier hat die Störung y. Das interessiert mich gar nicht.“ Was Lobsang dagegen interessiert, ist das individuelle Wesen jedes einzelnen Kindes, ganz ohne Vorurteile und Klassifizierungen.
Eine der größten Schwierigkeiten für Jhamtse Gatsal besteht darin, Lehrer zu finden. Die abgelegene Position – bis in die nächste Stadt sind es zwei Tagesreisen mit dem Auto – aber auch die erforderliche totale Übereinstimmung mit dem Wertesystem der Gemeinschaft (Liebe und Mitgefühl, Solidarität, gemeinschaftliches Leben, in dem alle gleich sind und es für niemanden Ausnahmen gibt) – machen die Suche sehr schwierig. „Wir suchen erst einmal nicht nach einem Lehrer, sondern nach einem Mitglied für unsere Gemeinschaft. Die menschliche Güte ist wichtiger als der Lebenslauf“, sagt Lobsang. „Wir unterscheiden zwischen ‚human being’, dem menschlichen Wesen, und ‚human doing’, dem menschlichen Handeln. Und das Wesen interessiert uns mehr als das Handeln.“
„Die Gemeinschaft von Jhamtse Gatsal ist nach dem Modell eines Dorfes aufgebaut. Ein Ort mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Die wichtigste Erziehung, die wir unseren Kindern geben können und geben wollen, ist die Fähigkeit zu Beziehung, die relationship. Wie möchten Freundlichkeit und Güte in den Kindern wecken. Wir bauen unsere kleine Armee der Liebe und des Mitgefühls auf.“ Inzwischen sind bereits 24 der 97 Kinder, die die Gemeinschaft bisher aufgenommen hat, auf Universitäten in verschiedenen indischen Städten übergewechselt, wo sie westliche oder tibetanische Medizin studieren oder Kurse in Krankenpflege belegen. All diese jungen Menschen haben ein klares Ziel vor Augen: Sie wollen zurückkommen nach Tawang, nach Jhamtse Gatsal, um der Gemeinschaft das zurückzugeben, was sie selbst erhalten haben. Sie möchten ein lokales kleines Krankenhaus gründen, denn bislang liegt das nächste Krankenhaus zwei Reisetage mit dem Auto entfernt. Andere „Ehemalige“ sind jetzt schon aktiv. Eine junge Frau, die bereits ihren Uni-Abschluss in Soziologie in der Tasche hat, macht gerade ein Praktikum im SOS Childrens Village in Delhi, weil sie vor ihrer Rückkehr nach Jhamtse Gastal die nötigen Erfahrungen sammeln möchte, um ihrer eigenen Gemeinschaft dann auf die beste nur mögliche Weise nützlich sein zu können.“
„Aber ist das nicht wirklich eine schwierige Verantwortung, diese Verantwortung für 97 Buben und Mädchen?”, frage ich diesen Mann mit dem sanften Gesichtsausdruck. Lobsang lächelt: „Wenn ich heute Eltern mit zwei Kindern sehe, denke ich immer, wow, was die stemmen müssen! Es ist viel schwieriger, zwei Kinder in einer Umgebung aufzuziehen, in denen die Familien völlig sich selbst überlassen sind, wie es heute vor allem in der westlichen Welt oft der Fall ist, als ganz viele Kinder innerhalb einer Gemeinschaft großzuziehen. In einer Gemeinschaft ist immer jemand da, der sich um einen anderen kümmert. Alle haben viele kleine und viele große Geschwister. Wenn ich wegfahre, bin ich ganz entspannt, weil ich weiß, dass die Kinder in guten Händen sind.“ Als einmal ein paar amerikanische Forscher anreisten, um das Glücksniveau der Kinder zu analysieren, kamen sie zu einem überraschenden Ergebnis: Jhamtse Gatsal gehörte zu den Orten mit dem höchsten Glücksquotienten der ganzen Welt.
Post Scriptum: Zusammen mit Lobsang haben wir Edith Ploner getroffen, die Inspektorin der ladinischen Schulen in der Provinz Bozen. Die Diskussion drehte sich vor allem um die dreisprachigen Schulen in den ladinischen Tälern, ein Modell, das Lobsang gerne genauer kennenlernen möchte. In Jhamtse Gatsal findet der Unterricht in vier Sprachen statt: Monpa, Tibetisch, Hindi und Englisch. Der Wunsch wäre, den konstruktiven Austausch von Minderheit zu Mehrheit zu vertiefen und zu verstärken.