Kultur | Salto Gespräch

Die gute Freundin Zeit

Den Verein zur Verzögerung von Zeit gibt es nun auch in Südtirol. Ein Gespräch mit dem Experten Martin Liebmann, inkl. einem Lesebeispiel zur Verzögerung von Lesezeit.
Martin Liebmann
Foto: Verein zur Verzögerung von Zeit

salto.bz: Sie kommen gerade mit dem Schiff von einem Sardinien-Aufenthalt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen gemütlich schippernden Schiffsreisen und körperlicher wie geistiger Entschleunigung?

Martin Liebmann: Für mich gibt es diesen Zusammenhang eindeutig. Auf dem Schiff bekomme ich ein anderes Gespür für die zurückgelegte Strecke. Wenn ich ankomme, ist meine Seele bei mir. Beim Fliegen habe ich immer das Gefühl, sie braucht noch ein paar Tage, um anzukommen. Allein deshalb bevorzuge ich langsamere Reisen. Der Weg ist dabei schon ein Teil der Erfahrung. Im Urlaubsland selbst bin ich fast ausschließlich zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Das entschleunigt ganz wunderbar.

Sardinien zählt zu den Inseln, wo laut Statistik die Menschen im Durchschnitt länger leben als anderswo. Liegt es – wie etwa auch auf der griechischen Insel Ikaria – daran, dass Zeit eine sehr untergeordnete Rolle spielt?

Die Uhren ticken ja überall gleich. Die Menschen auf Sardinien ticken aber anders. Die Zeit ist dort nicht Feind, sondern eine gute Freundin. Diese Freundin treibt niemanden vor sich her, sondern ist sehr naturverbunden, dehnt sich auf den Straßen, Plätzen und in den Bars auf wundersame Weise aus und gibt viel Raum für Begegnungen und Gespräche. Dass es auf der Insel so viele Menschen gibt, die über 100 Jahre alt werden, liegt wahrscheinlich tatsächlich daran, dass dort so viel Zeit für Gemeinschaft ist. Und natürlich am guten Essen.

Materieller Reichtum ist so etwas, wofür sich viele abrackern, ohne damit dem Glück wirklich näherzukommen.

Sie haben nun auch in Südtirol den Verein zur Verzögerung der Zeit vorgestellt – viele Jahre nach der Gründung. Spielt diese Zeitfrage, bei einem Verein der sich mit dem Thema Zeit auseinandersetzt, keine wesentliche Rolle?

Dass wir uns fast 30 Jahre Zeit genommen haben, um in Südtirol eine Landesvertretung zu eröffnen, ist doch sehr poetisch, oder? Wir hatten einfach keine Eile.

Was sind die Ziele des Vereins in Südtirol?

Neben den Zielen die wir auch in Österreich, Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern verfolgen – nämlich ein Netzwerk von an Zeitfragen interessierten Menschen zu knüpfen –, wollen wir natürlich viel von den Südtirolern und Italienern lernen. Das dolce vita und dolce far niente hat ja hier den Ursprung. Wir sind schon sehr gespannt auf die Impulse aus dieser schönen, naturverbundenen Region.

Was finden Sie an der Thematik Zeit faszinierend?

Wir alle haben so etwas wie ein Gefühl für Zeit, aber irgendwie entzieht sich diese Dimension immer wieder unserem direkten Zugriff. Zeit bleibt ein Stück weit ein Geheimnis – und damit sehr faszinierend. Andererseits ist unser Umgang mit ihr, also mit Zeitkultur, eine der spannendsten gesellschaftlichen und zivilisatorischen Prozesse. In welchem Tempo verbrauchen wir unsere Welt und ihre Ressourcen? Wofür nehmen wir uns viel Zeit? Welches Tempo ist wo gut? Das sind faszinierende Fragen!

Wir haben das lange Weilen verlernt.

Wer gibt Zeit vor? Warum laufen wir ihr hinterher?

Es ist immer die herrschende Megaphilosophie der Epochen, die unsere Zeit bestimmt. Lange war es die Natur, dann ein Gott oder viele Götter. Den ersten Takt hat die Religion gebracht – mit den Glockenschlägen. Heute ist es die Ökonomie, die das Tempo vorgibt. Ihr materielles Freiheitsversprechen hat den Wettbewerb allgegenwärtig gemacht. Ihre technischen Innovationen versetzen uns in einen wahren Rausch der Optionen, von denen wir keine versäumen wollen. Ihr Veränderungstempo gibt uns ständig das Gefühl, nicht mehr hinterher zu kommen. Wer zu langsam ist oder gar einmal innehält und stehen bleibt, scheint von den Segnungen der Moderne abgehängt zu werden.

Wir setzen uns gewollt oder ungewollt ungesundem Stress aus. Warum glauben wir das tun zu müssen?

Ich glaube das liegt daran, dass wir eine kollektive Angst davor haben, als Verlierer dazustehen wenn wir nicht im Hamsterrad mitlaufen. Wir könnten den Job und gesellschaftliche Anerkennung verlieren. Außerdem nehmen wir viele Dinge viel wichtiger, als sie für ein gutes Leben wirklich wichtig sind. Materieller Reichtum ist so etwas, wofür sich viele abrackern, ohne damit dem Glück wirklich näherzukommen.

 

Gibt es gesunden Stress?

Wenn ich Stress als ein Ungleichgewicht von Anforderungen und Ressourcen verstehe, gibt es tatsächlich einen kleinen Bereich, in dem ich mich weiterentwickeln und meine Selbstwirksamkeit erfahren kann. Das kann belebend und vielleicht sogar gesund sein. Auf Dauer ist so ein Ungleichgewicht aber sowohl für den Geist als auch für den Körper ungesund. Ich glaube, dass es uns gut tut, wenn wir etwas mit Leidenschaft und gern tun, das ist dann aber nicht gesunder Stress, sondern ein Flow.

Haben wir Angst vor Langeweile? Sie würde möglicherweise unsere Phantasie beflügeln…

Der Philosoph Arthur Schopenhauer sieht unser Leben zwischen zwei Polen hin und her pendeln: der Not und der Langeweile. In der Not gibt es keine Langeweile, ist die Not aber abgewendet, entsteht die Langeweile. Beide seien die Feinde unseres Glücks. Schopenhauer geht sogar so weit zu behaupten, dass der Kampf gegen diese Langeweile genauso quälend sei wie der gegen die Not. In diesem Kampf schlagen wir unsere Zeit tot. Wegen der ganzen Ablenkungen um uns herum wird uns immer schneller langweilig. Wir haben das lange Weilen verlernt.
Aber genau dieses lange Weilen ist für die Kreativität ungemein wichtig. Und nicht nur dafür, sondern auch, um uns selbst zu begegnen. Davor haben viele Menschen allerdings Angst, denn es könnten sich ja Abgründe der Lehre öffnen.

Ich plädiere dafür, dass wir uns Zeit nehmen sollten fürs Innehalten – und darüber nachdenken und uns auch austauschen sollten, wie wir zukünftig leben wollen.

Aus aktuellem Anlass: Was bevorzugen Sie, Sommerzeit oder Winterzeit?

Ich bevorzuge die Sonnenzeit, den Rhythmus von Tag und Nacht. Ich glaube, die sogenannte Winterzeit kommt dem mehr entgegen, ich könnte aber auch mit der Sommerzeit leben. Hauptsache dieser Blödsinn mit der Umstellung hört endlich auf.

Was kann Zeitdruck dennoch berauschend machen? Viele Dinge würden nie fertig, gäbe es nicht die letzte Minute, meinte sinngemäß der Schriftsteller Mark Twain...


[Transkription] Das mit der letzten Minute kann ich bestätigen. Meine Hausaufgaben habe ich als Schüler – wenn überhaupt – im Bus gemacht. Inzwischen bin ich aber lieber früher fertig und nutze die letzte Minute zum Nichtstun. Am Zeitdruck finde ich mit zunehmendem Alter immer weniger Positives. Berauschen lasse ich mich lieber von einem guten Wein.

Wie kann man Zeitlosigkeit lernen?

Statt von Zeitlosigkeit spreche ich lieber von Eigenzeit. Wenn ich mir genau die Zeit für etwas nehme, die ich dafür als passend empfinde, dann ist das meine Zeit. Wie man das lernen kann? Ich mag es nicht, anderen Menschen Ratschläge zu geben. Ich glaube, dass das jede und jeder selbst herausfinden kann. Einfach einmal ausprobieren, könnte dabei hilfreich sein.

Wie halten Sie es persönlich mit der Pünktlichkeit?

Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin in meinem Umfeld wahrscheinlich der pünktlichste Mensch. Ich mag es nicht, wenn andere auf mich warten müssen. Für mich ist das eine Frage des Respekts. Meine Sardinien-Therapie macht mich in dieser Sache allerdings zunehmend gelassener.

In welcher Zeit leben wir?

Ich bin überzeugt davon in der wohl besten Zeit der Menschheitsgeschichte zu leben. Wir haben einen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, eine vitale Demokratie, leiden keine materielle Not, haben ein europäisches Projekt, das uns seit Jahrzehnten in Frieden leben lässt, haben eine erstklassige Medizin, gewachsene Institutionen, die unser Zusammenleben gut organisieren – ich könnte endlos weiter schwärmen! Wir setzen all diese zivilisatorischen Errungenschaften allerdings aufs Spiel, wenn wir dem ungebremsten Wachstum und Weltverbrauch weiter blind folgen. Ich plädiere dafür, dass wir uns Zeit nehmen sollten fürs Innehalten – und darüber nachdenken und uns auch austauschen sollten, wie wir zukünftig leben wollen. Unser Umgang mit der Zeit ist für mich dabei ein Schlüssel – sowohl für das individuelle Glück als auch für ein gutes Zusammenleben.