Raschelnde Flüsse
Leo flieht aus der Stadt, aus Deutschland, in die südfranzösischen Berge. Steigt aus: aus ihrem alten Leben; aus der U-Bahn, die sie mehrmals am Tag in panischen Angstzuständen auf die Straße spuckt; und aus den Menschenmassen, in denen sie - manisch, unwillkürlich und von Scham geplagt - nach den Gesichtern von Attentätern sucht. Attentäter, die Leo in ausländischen Zügen oder zu langen Bärten zu erkennen glaubt und für deren Verdächtigung sie am liebsten im Erdboden versunken wäre. Wäre der nur nicht so unglaublich staubig, trocken.
Lammende Schafe und raschelnde Flüsse
Mirjam Wittigs Debütroman “An der Grasnarbe” folgt der Protagonistin in szenischen, wie mit der Handkamera gedrehten Nahaufnahmen auf einen Bergbauernhof in die südfranzösischen Alpen, wo die junge Restauratorin Zuflucht vor den immer wiederkehrenden Panikattacken, vor den Menschenmassen, die sie in der Stadt zu verschlingen drohen, sucht. Die Angst vor Terroranschlägen dient dabei nur als Aufhänger für das, was folgt: ein ehrlicher, einfühlsamer Bericht über Leos Eindrücke und Gefühle zwischen lammenden Schafen, Kartoffelackern und vor Trockenheit raschelnden Flüssen.
Ohne verklärende Romantik
Wer nun eine klassische Aussteigergeschichte erwartet, wird enttäuscht. Einmal in den Bergen wendet sich die 26-jährige Autorin von einer verklärten Naturromantik ab und vermeidet jegliche Anspielung auf das “Ursprüngliche”. Auch Leos Ängste verschwinden durch den Szenenwechsel nicht, kriechen aber langsam aus Leos Innerstem hinaus in die Welt: Während in der Stadt die Ängste tief in ihr drinnen wurzelten, ist es in den Bergen vor allem die Natur, die Leos Atem zum Stocken bringt: der für diese Jahreszeit viel zu helle Boden, die Äcker, die sich wochenlang unter der gleißenden Sonne krümmen, und die feinen Risse, die die karge, trockene Erde wie zur Ankündigung durchfurchen.
Der Blick der aus Rheine bei Münster stammenden Autorin flimmert zwischen Ängsten und Alltag in den Bergen, Leos Inneren und ihrem Umfeld: Momentaufnahmen, die manchmal zu einem einzigen Bild verschwimmen und sich andere Male diametral gegenüberstehen. Ein Roman, dessen politisch angehauchter Nährboden zum Nachdenken über Xenophobie und Klimawandel anregt, in seiner intimen Ausarbeitung aber auf allgemein Gültiges oder gar Belehrendes verzichten kann.
Es gab in der Vergangenheit
Es gab in der Vergangenheit immer wieder Ausreißer beim Wetter, für die bei ausbleibenden Regen, mit Bittgängen zu bestimmten Kirchen in der Nachbarsgemeinde Hilfe erbetet wurde. Im besten Fall, so erzählt man, kamen die Bittgänger durchnässt nach Haus.
Die gegenwärtige Trockenheit deutet aber darauf hin, dass die Erderwärmung / Klima-Krise beginnt ihre unangenehmen hässlichen Auswirkungen zu zeigen, die in Zukunft weite Teile der Erde für eine gewohnte landwirtschaftliche Produktion ausschließt.