Kultur | Salto Afternoon

Durch das Lesen, Schweigen brechen

Rut Bernardi lässt fünf literarische Porträts aufleben und erzählt ihre Lebensbilder in ihrem deutschen Roman „Totgeschwiegene Leben“. Eine Kostprobe für Unverzagte.
Erinnerung
Foto: Laura Fuhrman

Das Buch Totgeschwiegene Leben der Südtirolerin Rut Bernardi ist im Raetia-Verlag dieses Jahr in deutscher Sprache erschienen. Im ladinischen Original „Vites scutedes via. Essays letereres“ (2020) wurde es beim literarischen Wettbewerb „Scribo. Auturs ladins scrí“ der ladinischen Kulturabteilung Südtirol ausgezeichnet. Die 240 Seiten sind in fünf literarische Porträts eingeteilt und erzählen die Lebensbilder vergessener Persönlichkeiten von 1750 bis heute. 

 

 

Das erste Porträt erzählt von einer jungen Frau, die ins Kloster Neustift eintritt und dabei die Freiheit erlangt. Das zweite lässt die Lebensgeschichte eines Organisten, Komponisten und Schriftsteller aufleben, der Anerkennung nur in der Fremde findet und zu seinem Bedauern, nicht in seinem Heimatort. Die dritte Geschichte erzählt von einer Frau, die in einer familiärer Beziehung zur Autorin stand. Jene neunfache Mutter lässt nach dem Ersten Weltkrieg ihren Mann und ihre Kinder zurück. Sie fährt mit einem österreichischen Offizier davon. Eine Schuldirektorin gerät in politische und ideologische Wirren und fällt in Ungnade. Die fünfte und letzte Lebensgeschichte wird einem unehelichen Kind gewidmet, das abgeschoben wird und der NS-Euthanasie entkommt. 

 

Zwei Textstellen für eine erste Kostprobe 

 

Textstelle 1 
Die Lebensgeschichte von Maria Theresia Sanoner, später Schwester Benedikta (1759-1809). Titel: Luzifer, der Lichtträger 

(…)
Es war ein klarer Wintertag mit wenig Schnee. Schwester Benedikta wurde plötzlich ganz ruhig und dachte voller Erbarmen an ihre Mitschwestern. In all den Jahren der Belagerungen hatten sich noch keine Soldaten so brutal verhalten. Für Schwester Benedikta war der Gedanke, in jedem Augenblick selbst entscheiden zu können, wann die Zeit für das Abschiednehmen gekommen wäre, stets eine tröstliche Überlebensstütze gewesen. (…)
Die entbehrungsreichen Jahre der Belagerungen und Plünderungen hatten den Nonnen viel Leid gebracht. Somit war für Schwester Benedikta der Freitod in dieser schweren Zeit immer eine offene Option gewesen, gleichwohl ihre Obrigkeit den Suizid als Verbrechen gegen die Gesellschaft, das Gesetz und gegen Gott verurteilte. Ihr lag es jedoch fern, jemanden damit zu verletzen. Im Gegenteil. Ihre Liebe zum Klosterleben und zu den Mitschwestern war stets so groß gewesen, dass sie sich vor einer Verurteilung nicht fürchtete. Nur hätte sie nie geglaubt, den Freitod eines Tages nutzen zu müssen, um einer fremden Vereinnahmung zu entkommen.
Sie erinnerte sich an Larthia. Seit ihrer Aussprache mit der Ehrwürdigen Mutter verspürte Schwester Benedikta eine gewisse Verwandtschaft mit ihr. Und diese Vision verwirrte sich mit den Gestalten der Vier letzten Dinge auf den Tafelbildern an der Heilig-Kreuz-Kirche. Sie zeigten ihr noch einmal das Entscheidende, worum es in diesem Augenblick ging: den Tod, das Widerspiel zwischen Höllenqual und Paradiesesglück und den Urteilsspruch beim Jüngsten Gericht. Es war also eine schwache Ahnung vom möglichen Ende der schweren Zeiten und von der Vollendung der gesamten Schöpfung, die sich schließlich in ihr öffnete und ihr eine letzte Zuversicht gab. Nicht zuletzt wusste sie den inzwischen uralten Luzifer bei Schwester Magdalena gut aufgehoben und versorgt.
Nach einer Hitzewallung, die durch ihren Körper lief, und im Wohlgefühl der nachlassenden Wärme, noch bevor der anschließende Schüttelfrost sich breitmachen konnte, überkam sie die Gelassenheit und die Gewissheit, dass sie das Richtige tat. Wie eine Filadrëssa, ein Turmfalke, glitt sie mit dem Aufwind, der winters über den Säbener Felsen steigt, fort. (S. 49-51) 

 

 

Textstelle 2
Das literarische Porträt der Rosalia Nogler (1891-1964). Titel: Der Ledermantel 

(…) 
Die junge Anna Maria Delago war gerade auf dem Weg zum Kirchplatz gewesen. Wie viele Frauen des Dorfes, die sich dort aufhielten, blieb auch sie stehen und schaute Rosalia Nogler wortlos nach. Die Frauen trauten ihren Augen nicht und waren zwischen Angst und heimlichem Neid hin- und hergerissen. Vor ihren Augen fuhr ein großes Kriegsmotorrad Douglas vorbei, worauf der Offizier Für- linger und Rosalia in einem schwarzen Ledermantel saßen, und sie war ... schwanger.
Rosalia Nogler, die Hausherrin des Baga – wie man das Café Grödnerhof im Dorf nannte –, hatte den ganzen Krieg hindurch, vier Jahre lang, das Haus und die Bildhauerfirma ihres Mannes Ferdinand Perathoner dl Baga, der bereits 1914 einberufen worden war, allein geführt. Vielleicht ist geführt zu viel gesagt. Besser passt das Wort durchgebracht, denn das neue Haus des Baga, das sie in Überwasser bei Vidalonch 1908 und 1909 auf dem von ihrem Vater geerbten Grundstück gebaut hatten, war groß. Zudem hatte Rosalia neun Kinder, es herrschte eine große Hungersnot und sie war gezwungen worden, in einem ganzen Stockwerk des Hauses österreichische Offiziere unterzubringen. Die Kriegsfront war in der Nähe und es wurde gerade eine Schmalspurbahn durch das Grödental gebaut.
Die Offiziere mussten rundum bedient werden und sogar deren Wäsche war zu besorgen. Es waren Rosalia vom Generalstab zwar Dienstmädchen zugeteilt worden, aber sie musste alle Fäden in der Hand halten. Um ihre Kinderschar zu ernähren, arbeitete sie zusätzlich als Kellnerin bei ihren Verwandten im Hotel Adler, wo ebenfalls Offiziere und Soldaten einquartiert waren.
Rosalia war schön. Es wird erzählt, sie sei eine der schönsten Frauen des Dorfes gewesen. Ihr Vater Engl Nogler war mächtig stolz auf seine Tochter, und wenn sie von der Messe kam, wartete er bereits am Stubenfenster zu Vidalonch. Wehe, sie hätte sich verspätet oder ein Mann wäre dabei gewesen. So durfte sie auch niemals alleine fort. Als sie schon vor dem Krieg im Hotel Adler aushalf, musste sie immer jemand begleiten und nach der Arbeit abholen. Auf diese Weise verfuhr nach der Heirat auch ihr Mann Ferdinand Perathoner. Rosalia – wie übrigens alle Frauen im Tal – kannte es nicht anders.
Am 3. Mai 1898 hatte sie geheiratet. An einem Dienstag, so wie es damals Brauch war. Ferdinand Perathoner dl Baga war 27 und Rosalia Nogler 20 Jahre alt. 
(…) 
In den ersten zehn Jahren ihrer Ehe gebar Rosalia nahezu jedes Jahr ein Kind. Die zwei erstgeborenen Mädchen Maria und Carlina überlebten, aber die nachfolgenden Buben Giuani, gestorben mit zwei Monaten, Gilo, gestorben mit 27 Jahren auf Sardinien, und Andrea, gestorben mit drei Monaten, hatte sie verloren. Caio überlebte als einziger Sohn. Nach ihm kamen Clara, Carla und Paula auf die Welt. Im neuen Haus Baga wurden außerdem Rudi, Marta und Ana geboren, wobei Rudi zehn Tage nach der Geburt und Ana mit zweieinhalb Jahren verstarben. (S. 91-93)