Gesellschaft | Gastbeitrag
Gerechtigkeit in Portionen
Foto: Südtirolfoto/Helmuth Rier
Es ist bekannt und unbestritten: wenige Jahre nach der Annexion Südtirols durch Italien ist der Bereich der Politik und der Verwaltung auf allen Ebenen im Land zu einem militant italienisch ausgerichteten Apparat geworden, in dem deutsch sprechende Verwalter und Bedienstete nicht mehr gefragt waren und deutschsprachige Bürger in ihrer Sprache nicht bedient wurden. Die Folge der Unterdrückungspolitik bis 1943 war es, dass Südtiroler in der Politik und im öffentlichen Dienst kaum noch eine Rolle spielten und dass in der deutschsprachigen Bevölkerung des Landes (und ähnlich in den ladinischen Talschaften) jegliche Beamtentradition wegbrach.
Nach der Wiederherstellung der Demokratie in Italien und zur Umsetzung des Pariser Vertrages wurden gesetzliche Vorschriften erlassen, die es den Angehörigen der deutschen und der ladinischen Sprachgruppe möglich und schmackhaft machten, wieder politische Ämter zu übernehmen und Stellen des öffentlichen Dienstes zu besetzen.
Dies wurde seither gewährleistet durch freie Wahlen zu den Volksvertretungen auf Staats-, Landes- und Gemeindeebene, aber genauso durch Vorschriften zur Regelung der Aufnahmen in den öffentlichen Dienst. Die neuen Bestimmungen kamen für die Besetzung der Stellen auf Landes- und Gemeindeebene ab 1948 zum Tragen, für Stellen der Staatsverwaltung wurden sie im Wesentlichen erst viel später nachhaltig wirksam, und zwar nach dem Erlass des 2. Autonomiestatuts aufgrund einer Durchführungsbestimmung des Jahres 1976.
Der Proporz
Der Mechanismus, der zum Wiederaufbau einer Beamtenschaft unter der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung in Südtirol führen sollte, war der Proporz, also die Vergabe der neu zu besetzenden Stellen an Bewerber aus den verschiedenen Sprachgruppen nach Prozentsätzen, die der sprachlichen Zusammensetzung der Bevölkerung zu entsprechen hatten.
Die Berechnung der Prozentanteile erfolgte (und erfolgt bislang) aufgrund der Ergebnisse der jeweils letzten allgemeinen Volkszählung.
Bewerber hatten (und haben) zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst ihre Zwei- bzw. Dreisprachigkeit nachzuweisen. Außerdem hatten (und haben) sie ihr Naheverhältnis zu einer der Sprachgruppen offenzulegen, und zwar durch eine Bescheinigung über die von ihnen vorgenommene persönliche Äußerung, mit welcher sie ihre Zugehörigkeit oder Zuordnung zu einer der drei Sprachgruppen erklärt hatten.
Ein Proporz auf der Grundlage der Erklärungen der Zugehörigkeit oder Zuordnung zu einer der drei Sprachgruppen findet eingeschränkt auch noch im Sozialbereich (insbesondere bei der Zuweisung von Sozialwohnungen) Berücksichtigung.
Der Proporz wurde also zu einer echten Erfolgsgeschichte.
Nach vielen Jahrzehnten der Anwendung des hier in groben Zügen erläuterten Regelwerkes können wir heute mit Genugtuung anerkennen, dass es in Südtirol gelungen ist, in den meisten Verwaltungseinrichtungen einen soliden Beamtenapparat auch wieder mit Angehörigen der deutschen und der ladinischen Sprachgruppe aufzubauen, dass jetzt diese Beamtenschaft durch eine im Wesentlichen ausgewogene Vertretung aller Sprachgruppen geprägt ist, dass die allermeisten der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gut oder zumindest einigermaßen gut die beiden hauptsächlichen Landessprachen beherrschen und dass sie - wenngleich nicht immer mit großer Begeisterung - bereit sind, die jeweilige Zweitsprache auch im dienstlichen Alltag zu verwenden.
Der Proporz wurde also zu einer echten Erfolgsgeschichte.
Eine unverdauliche Frage
Es soll aber jetzt eine vielleicht unverdauliche Frage gestellt werden: die Frage, ob wir es für wünschenswert halten, in unserem Land die Vergabe der Stellen im öffentlichen Dienst bis zum St.-Nimmerleins-Tag weiterhin nach Proporz und mit dem derzeit verfügbaren Instrumentarium zu vergeben oder ob wir es zumindest andenken sollten, diese heilige Kuh in näherer Zukunft zu schlachten und uns mental und auch organisatorisch darauf vorzubereiten.
Für eine Neuausrichtung in Sachen Proporz sprechen gleich mehrfach gute Gründe.
Das Unterscheiden, aber wir können auch sagen das Auseinanderdividieren von Deutschen, Italienern und Ladinern war von allem Anfang an infiziert durch Zweideutigkeiten.
Die Erklärung ist als Willensakt angelegt, also grundsätzlich nicht an das Vorliegen objektiver Voraussetzungen der Zugehörigkeit des Erklärenden zur entsprechenden Sprachgruppe gebunden. Die Erklärung war und ist somit häufig das Ergebnis billiger Opportunitätsüberlegungen.
Ob wir es zumindest andenken sollten, diese heilige Kuh in näherer Zukunft zu schlachten und uns mental und auch organisatorisch darauf vorzubereiten.
Die Erklärung konnte auch bis zum Jahr 2001 bei jeder Volkszählung nach Geschmack und mit sofortiger Wirkung gedreht werden.
Es kommt hinzu, dass die Durchführungsbestimmung generell die Möglichkeit einer Umwahl vorsieht, also dass eine gültig vorliegende Erklärung der Zugehörigkeit oder der Zuordnung zu einer der Sprachgruppen nachträglich nach Belieben abgeändert werden darf, allerdings mit der Einschränkung einer zeitverzögerten Wirksamkeit. Da die Mutation einer sprachlichen Identität in Wirklichkeit wohl kaum häufiger eintritt als eine Geschlechtsumwandlung, muss davon ausgegangen werden, dass man mit der beschriebenen Zauberformel Schlaumeiern besonders entgegenkommen wollte.
Eine Zumutung war und ist das geltende System häufig insbesondere für Ladiner, die sich um Stellen im öffentlichen Dienst außerhalb der ladinischen Talschaften bewerben wollten und wollen. Sie waren und sind in vielen Fällen gezwungen, sich unter Verleugnung der Zugehörigkeit zur eigenen Sprachgruppe als einer anderen zugeordnet zu erklären.
Fragwürdige Einteilung
Die Sinnhaftigkeit einer Einteilung in Deutsche, Italiener und Ladiner ist mit dem Fortschreiten der Jahre zunehmend fragwürdiger geworden.
Die Erklärung der Zugehörigkeit bringt gleichgewichtet zweisprachige Mitbürger in Schwierigkeiten, sie stürzt insbesondere Eltern zweisprachig aufwachsender Minderjähriger in ein ungutes Dilemma.
Unverständnis überfällt immer wieder auch weder deutsch- noch italienischsprachige Mitbürger und Neubürger, wenn ihnen das Bekenntnis zu einer der drei Landessprachen abverlangt wird.
Es stimmt, dass nach den Anfangsjahren die Möglichkeit eröffnet wurde, die Erklärung der Zugehörigkeit zu einer der drei Sprachgruppen durch eine Erklärung der Zuordnung zu ersetzen, sich also lediglich fiktiv einer der Sprachgruppen zuzurechnen, was dem Zwang der Erklärung einiges an Brisanz genommen hat.
Es ändert jedenfalls nichts daran, dass der Zuzug von nicht deutschsprachigen EU-Bürgern und die zahlreichen Einbürgerungen von Migranten aus weiter entfernten Ländern dazu geführt haben, dass der Anteil der Menschen im Land, die nicht real als Deutsche, Italiener oder Ladiner angesehen werden können, kontinuierlich angewachsen ist und eine nicht länger vernachlässigbare Größenordnung einnimmt.
Es braucht im Land gute, korrekte, einsatzfreudige, uneingeschränkt zweisprachige und auch unserer Autonomie wohlgesonnene Beamte, ihr persönliches Naheverhältnis zu einer der Sprachgruppen sollte nicht weiter von Belang sein müssen.
Die Verwässerung
Die Anwendung der Vorschriften zur Vergabe von Stellen im öffentlichen Dienst nach Proporz ist ohnehin immer wieder und immer mehr eingeschränkt, verwässert oder hintergangen worden.
In den vergangenen Jahrzehnten sind zunehmend Dienstbereiche, die der Regelung ursprünglich unterworfen waren, aus dem System herausgenommen worden oder herausgefallen, beispielsweise in der Folge von Privatisierungsprogrammen im Bereich der Mobilität oder bestimmter Hilfsdienste im Gesundheitswesen, durch den Übergang auf provisorische und zeitbegrenzte Anstellungen, durch Mechanismen der flexiblen Handhabung der Proporzvorschriften sowie durch widerrechtliche und meistens nicht beanstandete Abkommandierungen oder sogar Versetzungen von Bediensteten aus anderen Provinzen hierher (dies wiederholt besonders im Justizbereich).
Die Stellenvergabe nach Proporz steht im Widerspruch zum Leistungsprinzip.
Es ist zwar richtig, dass Personalaufnahmen zum öffentlichen Dienst über Wettbewerbe zu erfolgen haben und dass dabei nur Bewerber zum Zug kommen können, welche die Mindestanforderungen für die Ausübung ihrer Aufgabe erfüllen, also die nötige fachliche Eignung aufweisen. Bei der Vergabe nach Proporz ist es aber gewollt und kommt es immer wieder dazu, dass bessere Kandidaten auf der Strecke bleiben und weniger gute Mitbewerber aus einer anderen Sprachgruppe mit einem noch nicht erschöpften Kontingent zum Zug kommen.
Die Stellenvergabe nach Proporz steht im Widerspruch zum Leistungsprinzip.
Eine Stellenvergabe nach Proporz führt daher immer wieder zu Ergebnissen, die man als ungerecht empfinden darf und die jedenfalls für die Leistungskraft und die Produktivität der einstellenden Verwaltung von Nachteil sind.
Seit der jüngst erfolgten Neugestaltung der Volkszählungen ist die anonyme Erhebung der Stärke der Volksgruppen in Südtirol auch noch problematisch geworden.
Radikal ohne Proporz
Welche wären nun die Folgen einer Besetzung der Stellen im öffentlichen Dienst radikal ohne Proporz?
Sie würde mit ziemlicher Sicherheit nicht zu nennenswerten Verwerfungen führen. Wenn derzeit bei den allermeisten Dienststellen die Präsenz von Bediensteten aus den verschiedenen Sprachgruppen ausgewogen ist, also der zahlenmäßigen Stärke der Sprachgruppen entspricht, würde sich daran bei weiteren Neuaufnahmen ohne Proporz sicherlich kaum etwas ändern. Es würden auch weiterhin Bewerber aus allen Sprachgruppen angemessen zum Zug kommen, da sich zu den Wettbewerben wohl sicher sprachgruppenübergreifend und in ähnlicher Streuung gute, weniger gute und ungeeignete Kandidaten melden würden.
In den wenigen Bereichen, in welchen immer noch überproportional viele Bedienstete einer Sprachgruppe Dienst leisten, in denen also der seit vielen Jahrzehnten angepeilte Ausgleich nur unvollständig gelungen ist, waren offensichtlich Störfaktoren dafür ausschlaggebend, die wohl auch in Zukunft wirksam sein würden.
Bei einem Verzicht auf Einstellungen nach Proporz müsste selbstverständlich auch in Zukunft gewährleistet sein, dass alle Bewerber über gute, vor allem auch fachspezifische Kenntnisse der beiden hauptsächlichen Landessprachen verfügen. Dies würde am besten funktionieren, wenn dazu nicht länger die Vorlage irgendwelcher (oft auch zweifelhafter) Zwei- bzw. Dreisprachigkeitsattestate vorgeschrieben wäre, sondern wenn die Bewerber schriftliche Arbeiten und mündliche Prüfungen seriös in beiden Sprachen ablegen müssten, im Anlassfall auch zusätzlich auf Ladinisch.
Sicherlich würde es dem staatlichen Dienstherrn nicht schlecht anstehen, wenn auch bei Polizei und Militär sowie in sonstigen Verwendungsbereichen, für welche die Proporzbestimmungen nach wie vor nicht gelten, in weitaus größerem Ausmaß als bisher und über anspruchsvolle Wettbewerbe zweisprachiges Personal aufgenommen würde.
Überlegenswert wäre es zudem wohl auch, ob eine gerechtere Zuweisung von Sozialwohnungen nicht unabhängig von Sprachgruppenkontingenten ausschließlich vom Schweregrad der Bedürftigkeit und von Mindestzeiten der Ansässigkeit abhängig gemacht werden soll.
Vielleicht könnte sogar vom Prinzip abgegangen werden, dass die Amtsträger in Spitzenpositionen aller Gattungen immer nur Angehörige der deutschen Sprachgruppe zu sein haben und dass Italiener wie Ladiner sich von Natur aus mit Stellvertreter- und Vizedirektorenposten abspeisen oder ruhigstellen lassen müssen.
Vielleicht sollte man das Proporzdenken mittelfristig auch in einem noch breiteren Rahmen aufgeben. Beispieleise könnte man zum Zweck der Qualitätsoptimierung die Vergabe politischer Ämter bei Region, Land und Gemeinden liberalisieren und überhaupt von der komplizierten Berechnung und rigorosen Einhaltung von Quoten und Proporzanteilen nach Sprachgruppen abkoppeln, wie sie erst jüngst zu einem eher ärgerlichen Erbsenzählen geführt hat.
Zum Ausgleich müsste es für Parteien und wahlwerbenden Gruppierungen bei Wahlen auf Landes- und Gemeindeebene selbstverständlich werden, Kandidaten aufzubieten, die zumindest passiv die beiden hauptsächlichen Landessprachen beherrschen. Es wäre ein längst überfälliger Beitrag zu einer Entkrampfung unseres Mikrokosmos.
Vielleicht könnte sogar vom Prinzip abgegangen werden, dass die Amtsträger in Spitzenpositionen aller Gattungen immer nur Angehörige der deutschen Sprachgruppe zu sein haben und dass Italiener wie Ladiner sich von Natur aus mit Stellvertreter- und Vizedirektorenposten abspeisen oder ruhigstellen lassen müssen.
Die Thesen
Abschließend meine These zur Diskussion gestellt:
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Ein phantasieloses Festhalten an einem eigentlich unergiebigen Proporzdenken macht uns im europäischen Kontext zu einem aus der Zeit gefallenen Stammesreservat.
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Wir empfinden den mit dem Pariser Abkommen zugesicherten Schutz der deutschen Sprachgruppe (und implizit auch jenen der ladinischen) als nach wie vor essentiell und unverzichtbar. Er sollte aber mit besserem Werkzeug und gezielt offensiv angegangen werden.
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Das heutige Südtirol ist seit dem frühen Mittelalter fast ausschließlich durch Menschen deutscher Zunge und in Randbereichen durch die Nachkommen der rätoromanischen Vorsiedler geprägt gewesen. Wenn in den letzten hundert Jahren viele Menschen aus italienischen Landstrichen zu unseren Mitbürgern geworden sind und wenn in jüngerer Zeit Zuwanderer aus vielen, oft auch sehr fremdartigen Ländern bei uns einigermaßen heimisch geworden sind, so können wir das nicht mehr ändern und wollen wir das als geschichtliche Entwicklung akzeptieren. Wir haben in diesem Land bis auf weiteres alle Platz und wir sehen einem friedlichen Miteinander der unterschiedlichen Kulturen, wenn eine jede von ihnen ihr Eigenleben führen und ihre Geschicke selbstverwaltet gestalten darf, mit Gelassenheit und auch mit Zuversicht entgegen. Unsere Zukunft soll und darf allerdings absolut nicht in einem gesichtslosen Einheitsbrei münden.
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Zur korrekten Einordnung der Situation: es gibt inzwischen weltweit immer mehr Städte und Landstriche mit stark wachsender kultureller Gemengelage und es hat solche auch schon Jahrhunderte lang in vielen Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie gegeben, ohne dass das Sprachgefüge und das Geistesleben zusammengebrochen wären. Die aus einer derartigen Situation resultierenden Probleme wurden und werden kaum wo durch mathematische Formeln bewältigt.
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Was es in der neuen und wohl irreversibel gewordenen Situation braucht, ist vor allem eine zielgerichtete Sprachoffensive: eine Offensive zur Festigung der deutschen Sprache bei den deutschsprachigen Südtirolern, eine Offensive zur Durchsetzung einer ernsthaften Erlernung der deutschen Sprache durch unsere italienischen Mitbürger und durch die neuen Mitbürger und wohl auch eine Offensive zur vermehrten Pflege der ladinischen Sprache. Es wird dazu - notgedrungen kostenintensive - Sonderprogramme in den Kindergärten und in allen schulischen Einrichtungen brauchen. Es werden vermehrt anspruchsvolle Anstrengungen im Bereich der Lehrerausbildung nötig werden. An unseren Hochschuleinrichtungen wird der deutschen Sprache wieder ohne Beschönigungen ein angemessener Stellenwert eingeräumt werden müssen. Und selbstverständlich wird auch eine Intensivierung der kulturellen und menschlichen Kontakte zu den Ländern des deutschen Sprachraums und zu den rätoromanischen Regionen vonnöten sein.
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Zusätzlich sollte freilich mit Nachdruck überhaupt Zweisprachigkeit, besser noch Mehrsprachigkeit in allen Bereichen und möglichst bei den Südtirolern aller Gattungen propagiert und gefördert werden.
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Klingt logisch und simpel,
Klingt logisch und simpel, was es auch sein könnte, wären wir nicht in einem Land, in dem der Proporz zur DNA gehört, und ohne diesen Teil "unserer" DNA wird das "System" Südtirol obsolet.