Gesellschaft | zeitgeschichte

Der Schleier der Schützen

Welche Rolle spielte das Schützenwesen während der NS-Zeit in Südtirol? Eine Spurensuche in zwei Teilen. Teil 1: Ungebrochene Tradition?
Salurner in Innsbruck – Schlagzeile 16. Mai 1944
Foto: Salto.bz

“Ich habe keine Kenntnis darüber, wie weit die Arbeiten sind”, gesteht Elmar Thaler. Der Obmann des Südtiroler Schützenbundes (SSB) verweist auf Michael Forcher, jenen Tiroler Historiker, der seit 2013 an einer brisanten Sache arbeitet: Er soll die dunklen Zeiten der Tiroler Schützen während des NS-Regimes beleuchten – und jene der Südtiroler Schützen mit. Sensationelles, abseits der Tatsache, dass die Schützen dem NS-Regime oft willfährig dienten, erwarte er sich nicht, sagte Forcher jüngst zum Standard. Allein das wäre allerdings bereits eine kleine Sensation – wird doch bis heute in vielen Tiroler (und Südtiroler) Schützenchroniken der Mythos, die Tiroler Schützen seien Opfer des NS-Regimes gewesen, fortgeschrieben.

“In Nordtirol wurde das Schützenwesen durch den Einmarsch Adolf Hitlers am 12. März 1938 verboten, im Untergrund aber teilweise weitergeführt.”
(Chronik der Schützenkompanie Villanders)

“Dass die Schützen verboten und verfolgt worden oder gar im Untergrund gewesen seien, entspricht einfach nicht der historischen Wahrheit”, sagt Markus Wilhelm. Der Ötztaler Blogger ist maßgeblich daran beteiligt, dass der Aufarbeitungsprozess in Tirol überhaupt erst in Gang gekommen ist. ”Die Nationalsozialisten haben die Schützen nicht verboten, sondern sich einverleibt”, räumt der Landeskommandant der Tiroler Schützen Fritz Tiefenthaler im Standard ein. Sie seien ganz einfach in die neu gegründeten Standschützen übernommen worden, als deren Oberhaupt der Gauleiter fungierte. So wie in Südtirol.

 

“Ein jubelndes Sieg-Heil”

 

Es muss ein aus heutiger Sicht befremdliches Bild gewesen sein, das sich am 13. Mai 1944 in Brixen bietet. “Ein jubelndes Sieg-Heil brauste auf!”, wird das “Bozner Tagblatt” wenige Tage später verzückt schreiben.

Zum ersten Mal findet in der Bischofsstadt ein Kreisschießen der Standschützen statt. Gekommen sind der Generalmajor der Gendarmerie, der Präfekt der Provinz Bozen, Karl Tinzl, die Standschützenmusikkapellen aus St. Peter/Lajen, Lajen, Barbian, Villanders, Latzfons, Feldthurns, St. Andrä, Natz, Lüsen, Mühlbach, Mauls, Mareit und Wiesen sowie Männer des Ausbildungsbataillons der Polizeireserve, Trachtengruppen und die Deutsche Mädelgruppe aus Latzfons. Sie alle wollen sich von den Schießkünsten des “mächtigen Blocks der Standschützenkompanien” überzeugen, von denen das “Bozner Tagblatt” später berichten wird. Besonders stark sei die Teilnahme aus Villanders, Gossensaß und Sterzing gewesen.

 

Seit acht Monaten ist Südtirol von den deutschen Nationalsozialisten besetzt und bildet gemeinsam mit den Provinzen Trient und Belluno die “Operationszone Alpenvorland”. An jenem 13. Mai wehen tiefrote NS-Fahnen mit einem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund von den Fenstern der Brixner Altstadt, unter denen die Schützen vorbeimarschieren. Als oberster Vertreter des Regimes ist der Gauleiter von Tirol und Vorarlberg, Franz Hofer, in Brixen. Er ist von den Nazis zum Obersten Kommissar der Operationszone ernannt worden und vom Krankenbett angereist, um zur “feierlichen Menge” zu sprechen: “In diesen Tagen und Wochen, in denen die Stunden der Entscheidung vor uns liegen, sind wir uns voll bewußt, welche Bedeutung gerade dieses Land und damit auch der Kreis Brixen für die Kriegführung besitzt. Wir wollen als Soldaten der Heimat die Augen offen halten, ebensogut als Männer des SOD, der Polizeireserve, wie als Standschützen. Sollte irgend jemand versuchen, hier etwas gegen unsere Sache zu unternehmen, er hätte es mit unserer geschlossenen Abwehr zu tun und wenn der Feind vom Himmel fallen sollte, wir würden, wie Anno Neun, zu jeder erreichbaren Waffe greifen und ihn wieder in den Himmel zurückbefördern. (…) Der größte Deutsche aller Zeiten wird immer zu Euch stehen, wie ihr zu ihm steht! Ihn und seine Soldaten grüßen wir!”
Gewaltiger Beifall brandet auf, begleitet von “Sieg Heil”-Rufen, die am Anfang erwähnt wurden.

 

Kontrolle und Tradition

 

Groß ist die Beteiligung am Kreisschießen in Brixen. Am selben Tag findet eines in Bruneck statt, wenige Tage zuvor in Meran, einige Wochen später in Schlanders. Stets unter “äußerst reger Beteiligung”, wie in den Berichten im “Bozner Tagblatt” zu lesen ist.
Nach der Besetzung verbieten die Nationalsozialisten sämtliche deutschsprachige, katholische, antinazistische Presse des Athesia-Verlages in Südtirol. Das “Bozner Tagblatt” ist die einzig zugelassene Zeitung. Sie erscheint anstelle der Dolomiten zwischen 13. September 1943 und 14. Mai 1945. Hauptschriftleiter ist der Südtiroler Gunther Langes, SS-Mitglied und fanatischer Nazi. Damals ist Langes vor allem durch sein Buch über die Dolomitenfront 1915-1918 (“Die Front in Fels und Eis”) bekannt.

Herausgegeben wird das “Bozner Tagblatt” von der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO), die der NSDAP nahesteht und deren Mitglieder von den Nazis mit politischen Funktionen beauftragt werden. Aus der AdO geht auch der SOD hervor, der “Sicherheits- und Ordnungsdienst”, der Polizeiaufgaben übernimmt – und Juden, Deserteure und Kriegsverweigerer aufspürt und ausliefert. Zugute kommt dem NS-Regime, dass sich in AdO und SOD kooperationswillige Südtiroler befinden, die Land und Leute bestens kennen.

Es ist auch die AdO, die sich gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen für die Reaktivierung des Schützenwesens stark macht. Unter dem italienischen Faschismus waren die Schützenvereine verboten. “Nachweislich spätestens seit 1926” habe es keinerlei Aktivitäten mehr gegeben, sagt SSB-Obmann Elmar Thaler heute. Bis 1943. Dann wird nach Tiroler Vorbild, wo 1938 der “Standschützenverband Tirol-Vorarlberg” gegründet wurde, ein Standschützenverband ins Leben gerufen. Auch dieser wird von der AdO, den Handlagern der Nationalsozialisten, geführt und kontrolliert.

 

Man weiß um die Tradition des Schützenwesens und seine kapillaren Strukturen. Sich derer zu bedienen würde den Nazis erlauben, große Teile der Bevölkerung und des Territoriums unter Kontrolle zu bringen. Und mehr noch: Im Falle eines Angriffs stünden der Heimat stark verbundene und ortskundige Männer bereit, um sich für Führer und Reich zu opfern.

 

Neues Leben und grauer Mythos

 

Schon im September 1943 werden Schießstände reaktiviert, die die italienischen Faschisten beschlagnahmt hatten. Die Trachten werden wieder ausgepackt, das Scheibenschießen wieder aufgenommen. Hofer selbst greift bei einem Kreisschießen im Mai 1944 in Bruneck zur Waffe. Er schießt auf die Ehrenscheibe, die Rudolf Stolz gemalt hat. Der Südtiroler Künstler, der ab 1943 in Sexten malt, gefällt den Nazis. Die Ehrenscheibe, auf die Hofer zielt, zeigt ein Paar in der Pustertaler Tracht, das einem feldgrauen Soldaten die Hände bietet.
Ein Detail mit einer gewollten Symbolik, das die Nazis über das “Bozner Tagblatt” verbreiten lassen. Feldgrau ist die Farbe der Uniformen, die Wehrmacht und SS tragen. 

Hechtgrau hingegen sind die Uniformen der Standschützen im Ersten Weltkrieg. Diese ziehen Hofer und die Südtiroler NS-Funktionäre immer wieder heran, um den Kampfeswillen zu stärken und die Menschen von der Pflicht der Schützen, die Heimat zu verteidigen, zu überzeugen.
Zum letzten Mal waren die Standschützen, die aus dem Tiroler Landlibell von 1511 hervorgegangen sind, zwischen 1915 und 1918 ausgerückt, als es galt, die aus dem Süden herannahenden Italiener zu bekämpfen. Am 19. Oktober 1944 wendet sich das “Bozner Tagblatt” an die Südtiroler Bevölkerung: “Die geschichtliche Vergangenheit dieses Landes verpflichtet uns zu einem Beweis, daß wir aus gleichem Holz sind wie unsere Vorfahren. Als Nationalsozialisten haben wir ferner die Verpflichtung, für Führer und Reich das Letzte zu leisten, soldatische Tugenden zur Entfaltung zu bringen und auch in unübersichtlichen Lagen eiskalt und entschlossen zu handeln. Die Männer des Standschützenbataillons haben eine Kampfaufgabe, die ihnen den Schutz der engsten Heimat zur unmittelbaren Pflicht macht; das Bewußtsein dieser Aufgabe muß der Ansporn zum Kampfeinsatz bis zum Letzten sein.”

 

Soldaten der Heimat

 

Einen Tag vorher, am 18. Oktober, ist der “Volkssturm” ausgerufen worden. Bereits am 25. September 1944 befiehlt Adolf Hitler in einem Erlass, “in den Gauen des Großdeutschen Reiches aus allen waffenfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren (den) Deutschen Volkssturm zu bilden”. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges braucht die Wehrmacht Verstärkung. Von den Männern im wehrfähigen Alter sind die allermeisten bereits ausgerückt. Nun werden auch die ganz Alten und die ganz Jungen zu den Waffen gerufen.

In den Monaten zuvor haben Franz Hofer und die AdO-Funktionäre die Standschützen im Gau Tirol-Vorarlberg sowie in der Provinz Bozen, wie Südtirol zu jener Zeit bezeichnet wird, auf ihren Kampfeinsatz eingeschworen. Die Orts-, Kreis- und Landesschießen, die sich stets reger Beteiligung erfreuen, dienen der Wehrertüchtigung, werden vom “Bozner Tagblatt” als “Generalprobe für den Kriegseinsatz” bezeichnet. Hofer selbst spricht von den Schießbewerben als “Ausdruck des Wehrwillens und des Gemeinschaftsgeistes”, betont bei zahlreichen Anlässen – unter großem Beifall der Versammelten, wie das “Bozner Tagblatt” schreibt – “die unbedingte Wehrbereitschaft der Heimat, in einer Front mit den Soldaten in vorderster Linie” aufzumarschieren. Nun sollen die Standschützen selbst zu Soldaten werden, die sich der Unterstützung der heimatbewussten Menschen des Landes gewiss sein sollen.

 

Tiroler Adler trägt Hakenkreuz

 

Schon am 28. September fragt Franz Hofer direkt beim “Sekretär des Führers”, Martin Bormann nach. Hofer hat den Befehl über den “Volkssturm” nördlich und südlich des Brenners und möchte diesen unter der Bezeichnung “Standschützenbataillone” führen. Damit lässt sich die Kampfmoral hoch halten.

Bormann, als Reichsleiter für den “Deutschen Volkssturm” zuständig, lehnt ab. Er besteht auf den einheitlichen Namen. Hofer lässt sich davon nicht beeindrucken, lässt sogar eigene Stoffzeichen anfertigen, die am Ärmel der – wie 1915 in feldgrau gehaltenen – Standschützen-Uniformen angebracht werden: rautenförmig, mit dem Tiroler Adler, der ein Hakenkreuz in den Fängen hält. Das “Bozner Tagblatt” jubiliert: Die Tiroler Bauern würden, wie 1809 “auch jetzt in vorderster Linie stehen, wenn der Volkssturm gebildet wird. Ihre Haltung soll wiederum ein Beispiel für die Haltung der ganzen Nation sein. Es ist eine besondere Anerkennung der alten Wehrhaftigkeit und der Kampfbewährung unseres Volksstammes in Tirol, daß hier die Aufstellung des Volkssturmes in den Standschützen-Bataillonen erfolgt und damit die uralte Standschützentradition einen neuen Beweis ihrer ungebrochenen, ja gesteigerten Kraft geben kann”. Am 1. November 1944 stehen bereits 4.000 Standschützen unter Waffen.

 

 

Wie die Standschützen auf den “Endsieg” eingeschworen wurden und von NS-Abzeichen, die die Zeit überdauern, lesen Sie in Teil 2: “Mit Hakenkreuz gegen Faschistenbeil”.