Wirtschaft | Interview

“Die Angst lähmt uns nicht”

Mit Lokalpatriotismus in die Post-Corona-Zeit: Georg Oberhollenzer, Geschäftsführer der Raika Bruneck, über eine neue Vision für eine neue Zukunft des Pustertals.
Georg Oberhollenzer
Foto: Kottersteger

“Noch während wir mitten in der vermutlich größten Krise seit Jahrzehnten stecken, gilt es den Blick wieder in Richtung Zukunft zu lenken.” Diese Überlegung stand am Anfang eines Projekts, das die größte Genossenschaftsbank des Landes, die Raiffeisenkasse Bruneck, im April startete. Unter dem Titel “Neuland Pustertal” soll den Unternehmen der östlichen Landeshälfte ein Weg aus bzw. für die Zeit nach der Corona-Krise aufgezeigt werden. Georg Oberhollenzer ist seit Anfang des Jahres Geschäftsführer der Raika Bruneck – und blickt nun auf die Vision, “die Essenz von dem Bild, das die Pusterer von der Zukunft ihrer Region haben”, die in einem ersten Schritt erarbeitet wurde – gemeinsam mit den Pusterern.

salto.bz: Herr Oberhollenzer, warum braucht das Pustertal überhaupt eine neue Vision?

Georg Oberhollenzer: Noch während der Krise heißt es, Altes neu zu denken und Neues zu finden: Neuland zu erschließen. Wir wollen die Krise nicht nur gut bewältigen, sondern uns noch stärker aufstellen als zuvor. Dabei gewinnen alle, wenn wir Pusterer uns zusammentun und uns für eine gemeinsame Sache stark machen, nämlich für eine geteilte Vorstellung davon, wie die eigene Zukunft aussehen kann. Solche Ideen von der Zukunft heißen Visionen: Sie treiben das eigene Handeln an. Visionen kann man nur eben nicht erfinden. Man kann sie nur finden – und zwar dort, wo sie auch gelebt werden sollen. Die Raiffeisenkasse Bruneck hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Stimmen des Pustertals zusammenzutragen und diese gemeinsame Vision zu finden. Diesen Schritt haben wir gemacht und unsere Vision ist die Essenz von dem Bild, das die Pusterer von der Zukunft ihrer Region haben. Sie kommt aus unserem Inneren und basiert auf den regionalen Stärken und der lokalen Identität. Sie ist das gemeinschaftliche Produkt derjenigen, die sich an dem Prozess beteiligt haben, und sie ist das Angebot von Pustertalern an Pustertaler, diese Vision zur gemeinsamen Sache zu machen. Unsere Vision kann und darf zum Wegweiser für individuelle Strategien und unternehmerische Entscheidungen werden und so zur Leitlinie des eigenen Handelns.

Ein Brixner, der schon seit Jahrzehnten im Pustertal lebt, kann weniger Pusterer sein als das Kind einer gut integrierten Einwandererfamilie, das hier geboren wurde und nach unseren kulturellen Standards und Überzeugungen lebt

Diese Stimmen wurden in den vergangenen Wochen in einer Umfrage ermittelt. Welche sind die zentralen Aussagen, die aus der Umfrage hervorgegangen sind? Wie wünschen sich die Pusterer ihre Zukunft und die ihrer Heimat?

Unsere Umfrage war an 400 Personen gerichtet. Weit über hundert haben geantwortet. Aus mehr als 1.300 Statements hat sich herausgestellt, dass die Pusterer absolute “Chancendenker” sind. Der Puschtra Geist ist geprägt von Eigeninitiative, Fleiß, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit. Dieser bekannte Puschtra “Tamisch” hat sich in der Befragung häufig bestätigt: Der Pusterer lässt sich nicht so leicht unterkriegen und packt dort an, wo andere schon ans Aufgeben denken. Die Zukunft im Pustertal soll mit neuer Kraft und positiver Energie angegangen werden, wenn auch in einem bewussteren Tempo. Die Pusterer möchten die aktuelle Entschleunigung in die Zukunft tragen und haben auch schon Vorschläge dafür.

Und zwar?

Weg vom “Overtourism”, Stärkung der lokalen Kreisläufe oder Regulierung des Verkehrs sollen zu weniger Hektik führen und mehr Achtsamkeit und Fokussierung auf das Wesentliche in den Vordergrund stellen. Auch der Wunsch nach effizienteren und innovativen Arbeitsprozessen oder die stärkere Förderung der Jugend wurde häufig genannt. Die Pusterer sind zuversichtlich, dass ein neues und besseres Wirtschaften und Leben entstehen kann. Neben diesem generellen Optimismus hat sich in der Befragung auch der beispiellose Gemeinschaftssinn der Pusterer hervorgetan, der innerhalb der Familien, Bevölkerung – z.B. im Ehrenamt – und auch innerhalb der Wirtschaft gelebt wird. Besonders schön fand ich die Aussage, dass die Zukunft “enkeltauglich” gestaltet werden soll.

Neben den positiven Aussagen wurden auch Ängste und Befürchtungen geäußert. Welche Entwicklungen bereiten den Menschen vor Ort am meisten Sorgen?

Tatsächlich haben viele Teilnehmer die Sorge geäußert, dass wir als Gesellschaft nichts von der Krise lernen und dass, sobald alles vorbei ist, wir gleich weitermachen wie davor. Diese Angst vor einer gewissen Lernresistenz spricht wiederum dafür, dass die Menschen die Krise unbedingt als Chance nutzen möchten, die Dinge in Zukunft anders, besser anzugehen – und zwar in allen Lebensbereichen. Die Menschen wünschen sich mehr Rückbesinnung auf alte Werte, einen bewussteren Umgang mit der Natur, kleinere Kreisläufe. Eine weitere Sorge bereitet den Pusterern die doch sehr starke Abhängigkeit vom Tourismus, die sich jetzt sehr deutlich herausgestellt hat und vielen erst bewusst wurde. Auch haben sie die Befürchtung etwas zu verlieren, worauf sie sehr stolz sind, nämlich den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.

Unser Versprechen an die Bevölkerung lautet, mehr Wert in das Leben der Menschen und Unternehmen im Pustertal zu bringen

Die vergangenen Wochen waren von Stillstand, Isolation und Unsicherheit gekennzeichnet. Beim Blick in die Zukunft überwiegt bei vielen – Unternehmen, Familien, Arbeitnehmern – die Angst über die Zuversicht. Erschwert das nicht zusätzlich, Veränderungen anzugehen und umzusetzen?

Bei der Ausarbeitung und Umsetzung unserer Umfrage wurden wir vom Zukunftsinstitut begleitet. Dabei haben die Experten aus Wien und Frankfurt mit einer genauso ungewöhnlichen wie innovativen Methode gearbeitet, die sie selbst entwickelt haben: Im Fragebogen wurden nämlich Emotionen abgefragt, die die Pustertaler mit der Zukunft verbinden. Im Gegensatz zu rationalen Fragen, die rationale Antworten ergeben, stecken in den eigenen Visionen weit mehr als vernunftbasierte Pläne – sie sind geprägt von den eigenen Hoffnungen, Ängsten und all den Emotionen, die oft unsichtbar bleiben, aber uns Menschen antreiben. So habe ich auch selbst erst kürzlich gelernt, dass die Emotion Angst tatsächlich eine lähmende Wirkung auf uns Menschen hat. Sie lässt uns erstarren und hindert unsere Antriebskraft. Sie würde die Umsetzung von Veränderungen tatsächlich erschweren. Umso erleichterter bin ich, dass unsere Umfrage nicht bestätigen kann, dass bei den Pusterern die Angst über die Hoffnung überwiegt. Bestimmt ist sie präsent – aber nicht so dominant, als dass sie unseren Zukunftsmut und Innovationsgeist lähmt. Viele Unternehmen haben in kürzester Zeit enorme Entwicklungsschübe gemacht und sind über sich hinausgewachsen. Dieses Beispiel und die Ergebnisse unserer Umfrage deuten in die Richtung, dass Hoffnung und Freude über Angst und Leid überwiegen.

Großveranstaltungen, Touristenmassen, Verkehrsbelastung gehören zu den eher unschönen Bildern, die beim Gedanken an das Pustertal einfallen. Doch für den Neustart werden sie vorerst unumgänglich sein?

Das gilt nicht nur für das Pustertal – die Maschinerie des Tourismus wird langsam angekurbelt und früher oder später wieder auf Hochtouren laufen. Begriffe wie Zugangsbeschränkungen oder Verkehrsregulierung werden dann auch erneut aufkommen und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Dennoch bin ich mir sicher, dass sich dann der Blick der Pusterer geändert haben wird. Unsere Vision der Zukunft ist ein ressourceneffizientes und nachhaltiges Wirtschaften – das soll und wird kein leeres Lippenbekenntnis mehr bleiben.

Viele haben die Sorge geäußert, dass wir als Gesellschaft nichts von der Krise lernen und dass, sobald alles vorbei ist, wir gleich weitermachen wie davor

Sie sagen, die Vision soll ein “Angebot von Pustertalern an Pustertaler” sein. Vor dem Hintergrund, dass es auch im Pustertal – wenn auch weniger als in anderen Gebieten des Landes – in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Zuwanderung gegeben hat: Wen zählen Sie heute zu den Pusterern?

Pusterer zu sein ist etwas Besonderes, das ist neben der Herkunft eine Überzeugung und wird sogar in einem Lied besungen… Aber ich weiß, worauf Sie mit der Frage möglicherweise hinaus wollen. Sagen wir es so: Jeder, der sich gewinnbringend in die Gesellschaft integriert und seinen Beitrag leistet, ist willkommen und notwendig. Es ist weniger eine Frage der Herkunft als eine Frage der Kultur. So kann ein Brixner, der schon seit Jahrzehnten im Pustertal lebt weniger Pusterer sein als das Kind einer gut integrierten Einwandererfamilie, das hier geboren wurde und nach unseren kulturellen Standards und Überzeugungen lebt. Umgekehrt gilt: einmal Pusterer, immer Pusterer – auch wenn vielleicht schon seit Jahrzehnten im Ausland.

Was unterscheidet das Pustertal von anderen Regionen Südtirols?

Das Pustertal hat etwas an sich. So kann dieser Standort für international tätige Industriebetriebe auf den ersten Blick wohl ohne Übertreibung suboptimal erscheinen. Und dennoch sitzen genau hier internationale Firmen – z.B. führende Zulieferer der Automobilbranche noch dazu, die von hier aus erfolgreich ihre Geschäfte tätigen und nicht daran denken, ihren Standort zu verlegen. Dass selbst in einem solchen Weltkonzern ganz viele der Führungskräfte gerade aus dem Pustertal stammen, ist ohne Zweifel auf die typischen “Pusterer” Eigenschaften zurückzuführen.

Die da wären?

Die ursprünglich kargen Gegebenheiten des Tales – Wetter, Vegetation – haben unserer Einsatzbereitschaft und unserem Fleiß sicher nicht geschadet. Das Pustertal ist aber nicht besser oder “besonderer” als andere Landesteile in Südtirol – wir haben denselben starken Zusammenhalt wie die Menschen in anderen Tälern auch. Als Bewohner dieser Region ist dennoch jeder einzelne Pusterer stolz darauf, was dieses Tal imstande ist zu leisten – und durch den eigenen Fleiß am Erfolg der Region mitgearbeitet und seinen Beitrag dazu geleistet zu haben.

Befeuert ein Blick nur vor die eigene Haustür nicht den Vorwurf, nicht über den eigenen Tellerrand hinaus blicken zu können?

Das kann durchaus den Anschein erwecken. Dennoch muss der Leser erst wissen, dass nicht weniger als das mittlere Pustertal zum Tätigkeitsgebiet der Raiffeisenkasse Bruneck gehört und wir vor allem ihm verpflichtet sind. Unser Versprechen an die Bevölkerung lautet, mehr Wert in das Leben der Menschen und Unternehmen im Pustertal zu bringen – und durch das Projekt Neuland Pustertal wollen wir genau diesem Versprechen nachkommen.

Der Pusterer lässt sich nicht so leicht unterkriegen und packt dort an, wo andere schon ans Aufgeben denken

“Wir werden nicht an alten Stiefeln festhalten”, heißt es in der erarbeiteten Vision. Was heißt das?

Diese Aussage hat ein Teilnehmer im Fragebogen geäußert. Das Schöne an dieser Metapher ist, dass es sie gar nicht gibt! Ich habe lange gegoogelt und nichts dergleichen gefunden. Und doch versteht jeder, was mit diesem Bildnis gemeint ist. Mich hat gerade das so fasziniert – das ist Neuland. Mit diesem Wortspiel fasst der Teilnehmer auf prägnante Art und Weise das zusammen, was nahezu jeder Befragte mindestens einmal betont hat: “Nur nicht gleich weitermachen, nur nicht zurück zu alten Mustern.” Dieser Sager ist so sehr in unseren Köpfen hängen geblieben, dass er Teil der Vision wurde. Dadurch ist sie umso authentischer und beweist nicht zuletzt, dass sie ehrlich ist und direkt vom Innersten der Pusterer kommt.

Wie geht es mit “Neuland Pustertal” nun weiter? Was soll es an Ergebnissen geben?

Das Neuland Pustertal ist für uns eine Expedition, zu der wir uns voller Neugier und Tatendrang aufgemacht haben. Mit der Definition der gemeinsamen Vision für das Pustertal haben wir den ersten großen Meilenstein gesetzt. Gleichzeitig sind wir schon mit dem nächsten Schritt in Richtung Zukunft gestartet, nämlich mit der Entwicklung des Arbeitsbuches für die Pustertaler Unternehmen. Dieses stellt die gemeinsam entwickelte Vision in den Mittelpunkt und ist das Ziel unserer Expedition. Es ermöglicht Pustertaler Unternehmen eine vertiefende Arbeit mit den Kernthemen der Vision und an dem eigenen Geschäftskonzept. Es hilft mittels innovativer Übungen dabei, einen zur Vision passenden Post-Corona-Plan zu entwickeln, zeigt konkrete Innovationspotenziale für Pustertaler Unternehmen in den einzelnen Sektoren auf und nicht zuletzt, wie sich die Menschen und Unternehmen vorausschauend für die Zukunft aufstellen und diese aktiv mitgestalten können.

Gehen Sie tatsächlich davon aus, dass von den optimistischen Worten und Visionen am Ende ein realistischer Nutzen bleibt, um die Zeit nach der Krise besser zu gestalten?

Ja, unser Ziel ist es, den Pusterer Unternehmen mit dem Arbeitsbuch “Neuland Pustertal” ein Werkzeug zur Verfügung zu stellen, das sie bei ihrem persönlichen Neustart unterstützen soll. Das Werkzeug ist das Arbeitsbuch– als solches erfordert es auch entsprechende “Mitarbeit” seiner Leser. Durch bloßes Durchblättern wird wohl niemandem ein realistischer Nutzen bleiben – durch das tatsächliche Arbeiten mit dem Buch aber schon, da bin ich mir sicher!

Eine Bank wird ein Projekt wie “Neuland Pustertal” wohl kaum alleine stemmen?

Das gesamte Projekt muss selbstverständlich von Experten durchgeführt werden, da es wissenschaftlich aufgearbeitet wird: die Entwicklung und Erhebung der Umfrage, die Erarbeitung der Vision, die Ausarbeitung des Arbeitsbuches. Für die professionelle Begleitung haben wir uns entsprechend starke Partner ins Boot geholt: Das Südtiroler Beratungsunternehmen rcm solutions und das renommierte Zukunftsinstitut mit Sitz in Wien und Frankfurt. Beide sind bekannt für ihre zukunftsorientierten Forschungen und praxisnahen Instrumente. Die Zusammenarbeit war höchstprofessionell und eine Bereicherung für alle.

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Karl Trojer Fr., 29.05.2020 - 08:52

Hier zeigt eine genossenschaftliche Bank, wie gemeinschaftsorientiertes Denken Nutzen für alle bringen kann. Eine tolle Initiative, die umzusetzen sich für alle lohnt und die auch andere Bezirke inspirieren möge.

Fr., 29.05.2020 - 08:52 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Fr., 29.05.2020 - 20:08

Herr Oberhollenzer, Sie sollten in die Politik gehen.
Ich habe selten soviel gelesen ohne eine einzige wirkliche Maßnahme für das Neuland Pustertal zu finden.
Also viel heiße Luft, oder politisch korrekter, viel reden um nicht zu sagen, ausser dass die Pusterer halt doch die besten sind.
Also ab mit Ihnen in die grosse Politik, da werden Sie sich pudelwohl fühlen.

Fr., 29.05.2020 - 20:08 Permalink
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Salto User
Markus Schwärzer Fr., 05.06.2020 - 14:20

Was für ein Interview. Wow. Und was für eine Message. Pusterer sein ist was Besonderes. Mhmja, er als Pusterer muss es ja wohl wissen. Weiß doch wohl jeder. Puschtra sind die besten. Warum. Weil. Und weil alle großen Firmen in Südtirol Pusterer sind, jawohl. Von Salewa bis Leitner, Forst und Durst, sind sie wichtig, sind sie Puschtra. Und das alles mit bloßen Händen der kargen, lebensfeindlichen Pusterer Wüsten-Dschungel-Gletscherlandschaft abgerungen, mit bloßen Händen, bis der Nagellack splittert, da kennt der Puschtra nix. Weil Puschtra sind halt so. Sie sind was besonderes. Darüber gibt es sogar ein Lied, jawohl. Die intelligenteste Zeile dieser „Hymne“ lautet übrigens: „Puschtra zi sein isch wie a Erepfl mit Heilignschein.“ (Hääää?)
Unser Lied, jawohl. Noch Fragen?
Und wie war das noch gleich, mit den Visionen? Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Oder zur Raika, im schönen Pustertal, versteht sich.
So, ich muss noch einen Vulkankrater vor meiner Hauseinfahrt zuschütten, (die Pusterer Landschaft, da macht man was mit,) mit Schotter, den ich eigenhändig mit meinen Zehen zerbröselt habe. Ich bin halt a Puschtra, da ist man sowas gewohnt.

Fr., 05.06.2020 - 14:20 Permalink