Kultur | Kritik

Wir sind gekommen um uns zu beschweren

Jede Form von Kritik scheint heutzutage kompromittiert. Wie Kunst sich in der neoliberalen Gesellschaft ihren Stachel bewahren kann, bleibt eine offene Frage.

Seit Jahrzehnten folgt eine kritische Wende der nächsten. Kritik ist auch im Kunstfeld zu einem Gemeinplatz geworden. Überall finden sich besserwisserische und moralistische Haltungen, Gesten der Empörung, die vielfach langweilen und vorhersehbar sind. Kritik ist heute nicht mehr etwas Rares, dass nur wenigen Aufgeklärten möglich, während alle anderen von einem „Verblendungszusammenhang“ umfangen sind, wie es einst T.W. Adorno im Rahmen der kritischen Theorie formulierte.

Vielmehr ist Kritik eng mit den grundsätzlichen Funktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaften verbunden. Dem Historiker Reinhart Koselleck folgend, entsteht Kritik in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation: im Kampf des Bürgertums gegen die adelige Vormachtstellung. Nun hat die Kritik ihre eigene Dynamik entwickelt. Einerseits ist sie Teil des bürgerlichen Diskurses, als Kunst-, Musik- oder Literaturkritik, oder auch als moralisierende Gesellschaftskritik, andererseits versucht sie sich selbst außerhalb dieser Diskurse und Institutionen zu verorten. Kritik argumentiert im Namen der Vernunft, bzw. politischer und ästhetischer Ideale. Jede Beanspruchung eines Ideals setzt dessen kritische Prüfung immer schon voraus. Jeder Wert bleibt dann weiterer Kritik ausgesetzt - ein Mechanismus der unabschließbar ist. Kritik ist somit nicht mehr funktionales Instrument oder bloßes Mittel zum Zweck, sondern erhebt sich selbst zum Anspruch. Alles ist und bleibt der Kritik unterworfen. Allerdings wurden in unserer westlichen, aufgeklärten Gesellschaft nur gewisse Formen der Kritik institutionalisiert, wie beispielsweise im Wissenschaftsbetrieb. Andere gesellschaftliche Bereiche, allen voran wahrscheinlich die Ökonomie, werden nach wie vor sehr effizient gegen Kritik abgeschirmt. Kritik wird reguliert, eingefordert, abgewehrt und oft wird versucht, sie zu neutralisieren.

Diejenigen, die Kritik üben, müssen selbst mit Kritik rechnen und dabei stets zwischen Austeilen und Einstecken abwägen. Die Wirkung der kritischen Äußerung ist nicht absehbar. Kritik beinhaltet das Risiko, sich selbst auszusetzen, denn sie artikuliert auch einen subjektiven Zustand des oder der Kritisierenden. Dieses Wagnis ist Emma Sulkowicz mit ihrem Diplomprojekt „Carry That Weight“ eingegangen. Seit September schleppt sie eine 20 Kilo schwere Matratze über den Campus der Columbia University. Eine Matratze wie jene, auf der sie auf dem Campus vergewaltigt wurde. Sulkowicz wird die Performance solange weiterführen, bis der Täter die Universität verlassen hat. Diese Aktion hat in den USA für landesweite solidarische Proteste und mediales Aufsehen gesorgt, sicherlich auch, weil sich das Ereignis an einer renommierte Universität in Manhattan zugetragen hat. Sulkowicz und andere Aktivist_innen der Columbia sind sich dieser privilegierten Position bewusst und nutzen die Aufmerksamkeit nun, um auf die Situation von Frauen auf anderen Hochschulen hinzuweisen. Ob die Aktionen tatsächlich zu gerechteren und weniger sexistischen Zuständen führen wird, bleibt ungewiss. Jedoch verbildlicht „Carry That Weight“ die sehr typische zeitgenössische Kondition, sich gleichzeitig in einer privilegierten und diskriminierten Position zu befinden. Und sie zeigt auch, dass Kunst ein effizientes Instrument der Kritik ist, welches sowohl das Kunst-, als auch das Politikverständnis irritieren kann.

„Was kann ein Bild, einen Text, einen Sound überhaupt kritisch machen? Ist es der manifeste Inhalt oder aber die Form, in der dieser Inhalt kommuniziert wird, oder gar der Verzicht auf jeden Inhalt, vielleicht die Haltung, aus der heraus etwas getan oder gelassen wird? Woran wäre diese wiederum ablesbar, an einem Engagement außerhalb des Werks? Wie verhält es sich umgekehrt mit einer künstlerischen Kritik, die gar kein Werk mehr hervorbringt, also auf die Form verzichten will, sich als reine Kritik und doch als künstlerische Aktivität oder zumindest im Bezug darauf verstanden wissen will? Lässt sich auf der formalen Seite bereits das ästhetische Material als progressiv oder reaktionär zuordnen?“ Auf diese Reihe von Fragen, wie sie Helmut Draxler in seinem 2007 erschienenen Buch "Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst" stellt, möchten wir im kommenden Monat mit dem thematischen Schwerpunkt "Kunst und Kritik" Bezug nehmen. So werden wir Ausstellungen, Projekte und Künstler_innen nachspüren, die sich an bestehenden Verhältnissen reiben, nicht nur in Bezug auf die Praktiken der Kunst selbst, sondern ebenso in Bezug auf gegenwärtige soziale, ökonomische und kulturelle Dynamiken und ihre eigenen Verwicklungen darin.

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Roland Kofler Mo., 29.12.2014 - 22:18

als ich 1995 das Erste mal die "Spex" gelesen habe, kam ich mir genauso "balla" vor, wie nach diesem Artikel. Insofern,... Respekt. (wem diese Aussage jetzt nichts sagt, moege wohlwollend schweigen und an das Frankfurter Institut fuer Sozialforschung einen Spendenbeitrag ueberweisen.)

Mo., 29.12.2014 - 22:18 Permalink