Schuberts Seelenverwandter

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SALTO: Was hat Sie dazu motiviert, die Chaconne für Solo-Violine BWV 1004 für Violine und Orchester zu übertragen bzw. zu überarbeiten?
Gidon Kremer: Es ist eine Überarbeitung für Streichorchester ohne Violine. Es war einfach mein Wunsch, mit meinen jüngeren Kollegen diese wunderbare Musik zu teilen und ihnen die Freude zu schenken, dieses Werk gemeinsam zu spielen.
„Tabula Rasa“ für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier wurde 1977 von Ihnen zusammen mit Tatjana Grindenko, Alfred Schnittke und dem Litauischen Kammerorchester für ECM aufgenommen...
Leider konnte Tatjana Grindenko dieses Jahr nicht mitkommen, aber wir haben einen guten Ersatz gefunden. Pauline van der Rest, sie ist eine hervorragende junge Geigerin. Ja, und ich freue mich, sie auf ihrem Weg in die Zukunft zu begleiten. Ich habe sie erst kürzlich kennengelernt, aber ich vertraue ihrem Talent und wünsche mir, dass sie alle Schritte gehen kann, die zum Erfolg führen. Ich spürte gleich ihre Energie, ihre Ausstrahlung: Tabula Rasa wäre nie entstanden.
Ich schätze Arvo Pärt besonders, weil er einer der großen Meister ist. Er hat so viel wunderbare Musik geschrieben, aber nie überflüssige Töne.
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Gidon Kremer: Der bekannte Violinist nahm sich Zeit für die Fragen von SALTO. Die Fragen stellte Mauro Franceschi. Mit freundlicher Unterstützung von Elisabeth Anna Kofler. Foto: Festival Dolomites/SALTO
Auf der Website des Arvo Paert Centre finden wir diesen Text: Wenn es Dich, lieber Gidon, nicht gegeben hätte, hätte es auch „Tabula rasa“ nicht gegeben. Wenn es „Tabula“ nicht gegeben hätte, würde es auch mich nicht geben. Dein dankbarer, Arvo.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er das so gesagt hat, aber dieser Satz wird in seinem Zentrum zitiert. Wir sind natürlich verbunden, und Tabula Rasa war der Anfang dieser freundschaftlichen und künstlerischen Verbindung.
Ich schätze Arvo Pärt besonders, weil er einer der großen Meister ist. Er hat so viel wunderbare Musik geschrieben, aber nie überflüssige Töne. Gerade daran schätze ich ihn: dass er seine Welt als eine Art Widmung an die Musik, an den Geist der Musik versteht – und nicht versucht, Publikum, Musiker oder Kollegen mit zu vielen Tönen zu überwältigen oder sich dadurch wichtig zu machen.
Arvo Pärt ist ein sehr bescheidener und zugleich sehr großer Künstler. Es freut mich, dass wir jetzt, im Vorfeld seines 90. Geburtstags am 11. September, dieses Werk auf unserer kleinen Tournee spielen.90 Jahre…
Ja. Ich sage immer: Es ist wunderschön, alt zu werden, wenn man noch fit ist und noch musizieren darf. Dann ist der Beruf eher ein Hobby – und das ist das Beste. Ich bin mir nicht sicher, ob Arvo heutzutage gesundheitlich noch in der Lage ist, zu arbeiten. Aber er hat uns einen so reichen Nachlass hinterlassen, von dem wir alle zehren können.
Jedes Mal, wenn ich zu diesem Stück zurückkomme, vergesse ich nicht die ersten Begegnungen mit Tatjana Grindenko vor nahezu 50 Jahren. Das war eine wichtige künstlerische Partnerschaft – wir waren damals auch verheiratet.
Ich dachte, dass ich vielleicht gerade zu diesem Jubiläum das Werk wieder mit ihr spielen könnte. Aber der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat so vieles zerstört – auch Träume.
Doch das ist noch das Wenigste. Es geht um Menschenleben, denen nicht genug Respekt entgegengebracht wird. In Russland haben Ideologie und Machtstreben mehr Gewicht als das Leben von Menschen.
Schubert war immer mein Lieblingskomponist
Können Sie uns noch Ihre Erinnerungen an die Aufnahme dieses wichtigen Projekts schildern?Ich kann noch hinzufügen, dass die ersten Aufführungen mit der Mitwirkung eines anderen für mich sehr wichtigen Komponisten stattfanden: Am Klavier saß Alfred Schnittke, ein enger Freund, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe. Er spielte bei der ersten Aufführung mit, und dann gingen wir auch gemeinsam auf Tournee.
Dadurch begann die Welt, Alfred Schnittke kennenzulernen. Und damit wurde auch Tabula Rasa bekannt.Baltisches Feeling: "Drei Komponisten sind besonders wichtig: die litauische Komponistin Raminta Šerkšnytė, der in Belgien lebende russische Komponist Viktor Kissine und der in Haifa lebende Petersburger Komponist Leonid Desyatnikov." Foto: Festival DolomitesDer Zyklus "Eine andere Winterreise" stammt aus dem Jahr 2022. Zum 25. Jubiläum der Kremerata Baltica beauftragten Sie fünf Komponisten, Musikstücke zu schaffen, die mit Schuberts Winterreise kombiniert werden sollten. Was fasziniert Sie an Schubert? Warum wählten Sie die Winterreise als Ausgangspunkt?
Schubert war immer mein Lieblingskomponist, schon seit vielen Jahren. Ich wage kaum von „Seelenverwandtschaft“ zu sprechen, aber mich berührt jeder Ton von ihm.
Natürlich nicht nur Schubert – auch Beethoven, Bach, Albrecht Breuninger und viele andere. Aber Schubert war für mich immer besonders wichtig und ist es bis heute.
Wir spielen im Konzert nicht den ganzen Zyklus, den ich damals zum Jubiläum geschaffen habe – der dauert fast eine Stunde –, sondern eine kleinere Winterreise. Drei Komponisten sind besonders wichtig: die litauische Komponistin Raminta Šerkšnytė, der in Belgien lebende russische Komponist Viktor Kissine und der in Haifa lebende Petersburger Komponist Leonid Desyatnikov.
Mit Fragmenten aus Schuberts Winterreise kombiniere ich auch Intermezzi von Schubert selbst. Der Grundton bleibt Schubert – aber aus dem Blickwinkel unserer heutigen Zeit.Stimmen Sie mit Dostojewski überein, dass „die Schönheit die Welt retten wird“?
Es ist ein schöner, oft zitierter Satz. Aber ich muss leider sagen: Wenn die Welt sich weiter so entwickelt wie heute, wird die Schönheit sie allein nicht retten können.
Wir Künstler können nur daran erinnern, dass es Wichtigeres gibt als Politik und Krieg – dass wir uns an die Töne, an die Obertöne halten müssen. Schönheit ist unverzichtbar, gerade weil die Politik so ist, wie sie ist. Ohne Schönheit würden wir Mut und Energie verlieren.
Musik spielt eine Rolle, auch der Sport – aber vor allem die Schönheit.Weitere Artikel zum Thema
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