Sie küssten und sie zahlten sie
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Sean Baker erzählt gerne von den Menschen am Rand unserer Gesellschaft. Jenen, denen kaum oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die nahezu verstoßen werden, ob aufgrund ihrer sozialen Schicht, ihres Einkommens, ihrer Arbeit… In seinem neuesten Film Anora, der in Cannes dieses Jahr überraschend den Hauptpreis erhielt, beschäftigt sich der Regisseur nach Tangerine L.A. einmal mehr mit dem Thema Sexarbeit. Im Mittelpunkt steht dieses Mal die junge Frau Anora, die lieber Ani genannt werden möchte. Sie arbeitet in einem Stripclub in New York und lernt dort den jungen Russen Ivan kennen, Sohn eines einflussreichen Oligarchen. Schnell lernen sie sich näher kennen und Ivan begreift, dass er Anora mit Geld an sich binden kann. Er bezahlt schnell mal 15.000 US-Dollar, damit sie eine Woche lang seine Freundin spielt. Sie wohnt in dem luxuriösen Anwesen der Eltern in Brooklyn, während die aber selbst in Russland verweilen. Anora hat Sex mit Ivan, und wenn sie keinen Sex haben, führen sie flache Gespräche, Ivan spielt auf der Konsole, gibt mit dem an, was er hat, und tut vor allem eines: Sich abgesehen von fleischlichen Gelüsten nicht für den Menschen Anora interessieren.
Doch das ist erst einmal nebensächlich. Anora, die aus sehr einfachen Verhältnissen kommt, benötigt das Geld, und Ivan fühlt sich als Gönner und Nutznießer dieser Beziehung sichtlich wohl. Sogar zur Heirat in Las Vegas kommt es, weil Ivan dadurch eine Greencard erhalten könnte und in den USA, fern von den Eltern, ein schönes Leben führen könnte. Als jedoch klar wird, dass der Sohn eine Sexarbeiterin geheiratet hat, machen sich Mutter und Vater sofort auf den Weg nach Amerika. Zuvor schicken sie noch ihre Handlanger zu Ivan, um ihm seine Flausen auszutreiben. So entfaltet sich schnell ein großes Chaos, in dessen Zentrum Anora keineswegs verloren erscheint. Sie setzt sich zur Wehr, steht für das ein, was sie möchte. In erster Linie ist das Geld. Dabei darf aber nicht die falsche Annahme getroffen werden, dass Anora bloß gierig ist und die Gefühle von Ivan ausnutzt. Vielmehr zeigt Sean Baker mit seinem Drehbuch, das zwischen Komödie und Drama fließende Übergänge findet, die prekäre Lage seiner Protagonistin. Noch schmerzhafter wird das erst, als klar wird, dass Ivan Anora sofort fallen lässt, wenn Not am Mann ist. Das muss auch Anora erst verdauen – auf der Leinwand ergibt das ein unterhaltsames, aber auch stets bedrückendes Spektakel ab.
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Die Vergleiche mit Pretty Woman sind nur bedingt passend, denn Anora ist eben kein Märchen, sondern ein Sozialdrama. Es liegt nichts Schönes in dem Umstand, dass Ivan Anora aus ihrer finanziellen Notlage rettet. Auch von einer Flucht aus dem „schändlichen“ Beruf Sexarbeiterin kann nicht die Rede sein. Sean Baker macht klar, dass der Beruf nichts Schändliches an sich hat. Genauso wenig romantisiert er ihn aber – er ist für Anora eben Mittel zum Zweck.
Die Handlung steigert sich bis zum Finale immer weiter, nimmt immer weiter Fahrt auf. Getragen wird der Film voll und ganz von der Hauptdarstellerin Mikey Madison, die als Anora stark im Kopf bleibt und die Figur überzeugend mit Leben füllt. Dabei verwehrt sie sich, Sympathieträger für das Publikum zu sein. Mit ihren Handlungen könnte sie manche Zuschauer*innen sogar nerven, aber ist gut. Es braucht mehr nervige Figuren im Kino, die genau ihren Weg verfolgen, egal, was das Publikum davon hält.
Anora ist der vielleicht beste Film von Baker, weil er am ausgereiftesten wirkt. Anora selbst ist eine Figur, die für eine Weile bleiben wird. Der Hintergrund ihrer Geschichte ist gleichzeitig aber auch aufrüttelnd. Baker schafft das Kunststück, dem Genre des Sozialdramas eine unerwartete Leichtigkeit zu geben und die eigentliche Tragik lange Zeit hinter Unterhaltung zu verstecken. Das wurde von der Jury in Cannes belohnt.
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(c) Universal