Kultur | Bibliophile Fragen

„Potztausend!“

Der Journalist Patrick Rina befindet sich derzeit in einem regelrechten Kafka-Wahn. Zu den mehr oder weniger "immer gleichen Fragen" von SALTO hat er folgendes zu sagen.
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Foto: Privat
  • SALTO: Welches Buch hat Sie in Ihrer Kindheit nachhaltiger geprägt, als Sie damals je geglaubt hätten? 

    Patrick Rina: Als Dreikäsehoch liebte ich es, wenn mir Oma und Mama aus den Grimm’schen Märchen vorlasen. Unser Buch (anno 1932) war mit Illustrationen versehen, die mich erheiterten und bisweilen verängstigten. Im Grundschulalter wagte ich mich dann selbst an das Lesen und Vorlesen dieser Märchen heran, wobei mich vor allem „Jorinde und Joringel“ und „Der Gevatter Tod“ fesselten. Am „nachhaltigsten“ hat mich aber wohl das in vergnüglichem Plattdüütsch verfasste Märchen „Von dem Fischer und syner Fru“ beeinflusst. Das, was ich später als aristotelische „goldene Mitte“ begreifen durfte, begegnete mir in jenem Märchen als Wink fürs Leben: Hüte dich vor Maßlosigkeit!

    Welcher letzte Satz eines Romans ist und bleibt für Sie ganz großes Kopfkino? 

    Diese Frage muss ich mit einem zwerchfellerschütternden „Kafka! What else?“ beantworten. Das verstörende Abbrechen von Kafkas Roman „Das Schloss“ mitten in einem Satz „Es war Gerstäckers Mutter. Sie reichte K. die zitternde Hand und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte…….“, der dadurch zum fragmentarischen Schlusssatz wurde, hat mir unruhige Träume beschert. Gerade das Torsohafte schaltet das Kopfkino ein. Bruchstücke sind stets eine Einladung zur Fortsetzung des Gegebenen mit kreativen Mitteln. 
     

    Rufen Sie bei grausig-grausamen Büchern den Kammerjäger oder hoffen Sie auf eine klimagewandelte Außentemperatur von 451 Grad Fahrenheit (= 233 Grad Celsius) – da fängt das Schmonzettenpapier von selbst Feuer.

  • Kafka war ein Seher: Der gebürtige Meraner und begeisterte Kafka-Leser Patrick Rina war zehn Jahre lang ORF-Redakteur in Bozen und Wien. Seit 2022 ist er freischaffender Journalist. Foto: Privat

    Reimen ist doof, Schleimen ist noch doofer… Auf welches – anscheinend gute – Buch konnten Sie sich nie wirklich einen Reim machen? 

    Eingefleischte Fans von „Harry Potter“ mögen mir nach dem Lesen dieser ketzerischen Zeilen das durchlöcherte Ende des Hl. Sebastian an den Leib wünschen, doch ich kann nicht anders: Der Möchtegern-Zauberlehrling von Rowling, der den ganzen Erdkreis verhext hat, konnte mich bislang nicht hinterm Ofen hervorlocken. Meine Sympathie gilt anderen Zauberern: Miraculix aus dem renitenten Gallierdorf und dem kartoffelvernarrten Petrosilius Zwackelmann aus Preußlers „Räuber Hotzenplotz“. 

    Ein Fall für Commissario Vernatschio. Wie erklären Sie einem Außerirdischen die geheimnisvolle Banalität von Lokalkrimis? 

    Du heiliger Strohsack! Dem armen Außerirdischen, der das Pech hat, diesem touristisch hochgezüchteten Derrick-Surrogat zu begegnen, würde ich raten, „per Anhalter durch die Galaxis“ zu düsen! Als Fluchtwegzehrung würde ich ihm – nebst einem Vernatsch-Fläschchen – einen mit magen- und hirnschonenden Krimis gefüllten Rucksack überreichen. Darin fänden sich Dürrenmatts Kriminalromane, nach Pfeifentabak duftende „Maigret“-Geschichten von Simenon und sizilianische Wachrüttelbücher von Sciascia. 

    Gewichtig! Welchen Buch-Tipps schenken Sie noch uneingeschränkt Vertrauen? 

    Ich zähle auf das untrügliche Sensorium meiner Frau, die mir als Arabistin die Werke von Fatima Mernissi, Elif Shafak, Leïla Slimani, Hisham Matar und Yasmina Reza erschlossen hat. Zudem vertraue ich den Empfehlungen meiner lieben Freundin Sophie Weilandt, ihres Zeichens Literaturredakteurin des ORF in Wien, aus deren Fernsehrezensionen Scharfsinn und Sachkenntnis leuchten. Ihr jüngster Tipp: „Das Gegenteil eines Menschen“ von Lieke Marsmann – „ein erfrischend unkonventioneller Roman“, sagt Sophie. 
     

    Während die digitalen Daktylotypisten DEN Kindle anhimmeln und darauf gedankenverloren herumwischen, bevorzuge ich DIE Kindl


    Was für ein Fehlschlag! Welches Buch würden Sie auf einer einsamen Insel zurücklassen? 

    Potztausend! Was, wenn diese Insel gar nicht menschenleer wäre? Was, wenn ich ein Buch toxischen Inhalts auf dem Eiland zurückließe und dieses sich – in der Art frech wuchernder Neophyten – nahezu pandemisch ausbreitete? Das käme einem Kapitalverbrechen gleich! Darum mein Tipp: Rufen Sie bei grausig-grausamen Büchern den Kammerjäger oder hoffen Sie auf eine klimagewandelte Außentemperatur von 451 Grad Fahrenheit (= 233 Grad Celsius) – da fängt das Schmonzettenpapier von selbst Feuer. Ray Bradbury danke ich für diesen Hinweis! 

    Das Rauschen des Blätterns. Welches Buch würden Sie auf keinen Fall am E-Book-Reader lesen? 

    Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass mir dieser Gottseibeiuns in die Pfoten kommt! Während die digitalen Daktylotypisten DEN Kindle anhimmeln und darauf gedankenverloren herumwischen, bevorzuge ich DIE Kindl: Gemeint ist die Kulturhistorikerin Ulrike Kindl. Das Lesen ihrer Bücher – darunter die „Kritische Lektüre der Dolomitensagen“ und die bildwissenschaftliche Studie „Sirena bifida“ – ähnelt einer Abenteuerreise durch die Geschichte menschlichen Denkens. Da kann DER fad schimmernde Kindle ganz und gar nicht mithalten!

  • Meran im Reigen weiterer Kafka-Orte: Alles zu Kafka 2024. Ab kommendem 4. April mit Schwerpunkt zu Meran u.v.m. Foto: Kafka2024

    Welches Buch zu Südtirol oder eines/einer Autors/Autorin aus Südtirol würden Sie unbedingt weiterempfehlen? 

    Einen Katalog zu einer Ausstellung, die 2021 auf Schloss Tirol gezeigt wurde: Der schmale, aber inhaltlich tiefe Band mit dem Titel „Großdeutschland ruft!“, verfasst vom Bozener Historiker Hannes Obermair, ist eine hellsichtige Studie über die Macht der Propaganda. Mittels aufrüttelnder Bilddokumente aus der Optionszeit erklärt Obermair, wie Gleichschaltung und Fanatisierung funktionieren. In unseren politisch verfinsterten Tagen, in denen ich eine virale Re-Faschisierung der Gesellschaft beobachte, wirkt die Lektüre dieses Bandes nachgerade wie eine Immunisierung. Faschismus ist behandelbar! 

    Welcher Gedanke saust Ihnen denn als erstes beim Adjektiv „kafkaesk“ durch den Kopf? 

    Die einen denken beim Adjektiv „kafkaesk“ an albtraumhafte Szenarien und an die Ohnmacht des Einzelnen angesichts der abgründigen Macht des „Gesetzes“, die anderen assoziieren damit Kafkas eigenwillige Komik. Für mich ist „kafkaesk“ gleichbedeutend mit „prophetisch“: Kafka war ein Seher, ein Seismograph, der mit seiner Seelennadel die grundstürzenden Erschütterungen der faschistischen Barbarei lange vor allen anderen wahrgenommen hat. Um es mit Walter Muschg zu sagen: „Er wittert die Wahrheit, er sieht Dämonen, er ahnt die unendliche Schuld des Menschen und zittert vor dem Urteil über sich.“

  • Kafkaesk?: Für mich ist „kafkaesk“ gleichbedeutend mit „prophetisch“ Foto: Privat
  • Kafka in Meran

    Gemeinsam mit der Historikerin Veronika Rieder hat Patrick Rina das Meraner Kafka-Jahr 2024 initiiert. Kommende Woche (4.-6. April) kommt es im Rahmen eines reichhaltigen Programmes zu Einweihung des Milena Jesenská und Franz Kafka gewidmeten Platzes. Auch der bekannte Kafka-Forscher Reiner Stach wird nach Meran kommen.