Charles Baudelaire
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Gesellschaft | fritto misto

Baudelaire war’s

Wir sind Corona-stuff. Wenn das alles bloß einen Sinn hätte! Anleitung zum Selberbasteln.

Letzte Woche war ich bei Bekannten. Der Mann ist technisch versiert, ein Tüftler, nüchtern und pragmatisch. Zwei unglaubliche Minuten lang hielt man sich fast krampfhaft mit belanglosem Geplänkel auf, dann natürlich sofort in medias res: der unvermeidliche Corona-Talk. „Da steckt hundertprozentig die Pharmaindustrie dahinter“, so sein Urteil. Ich wurde daraufhin sehr müde und ging nach Hause. Dort rief mich meine Mutter an und erzählte mir, dass sie trotz erhöhtem Risiko keine Grippeimpfung hatte machen können, weil der Hausarzt keine Impfdosen mehr vorrätig hatte. Auch, dass ihre Freund beleidigt waren, weil sie eine Einladung zu einer Feier ausgeschlagen hatte. Meine Müdigkeit verstärkte sich. Ich machte das Radio an und legte mich auf die Couch. Im Radio hörte ich, dass zwar kein Lockdown mehr vorgesehen gewesen wäre, aber jetzt könne man ihn nun auch nicht mehr ausschließen, weil die ganze Welt auf Sicht fahre. Ich erinnerte mich daran, dass man auch im Frühjahr nur „auf Sicht“ gefahren war und dachte, wie anstrengend das sein müsse, im Corona-Nebel herumzugondeln, obwohl der sich im Sommer doch sehr gelichtet hatte und die Infektionszahlen jetzt auch kein Eisberg sind, der total unvermutet plötzlich vor dem Bug auftaucht: Man wusste doch, in welche Wasser man steuerte: Nicht chillige Karibik, sondern ungemütliche Arktis.

So schnell wird das alles nicht vorbei sein. Richten wir uns darauf ein. Baudelaire hat gesprochen.

Ich machte also das Radio aus und mit letzter Kraft den Fernseher an, und auch das hätte ich besser unterlassen sollen, denn dort versuchte der „Autotest“-Unterholzner bei „Pro und Contra“ dem Matrix Man in Halbsätzen zu erklären, wieso der Lockdown schlecht ist und wie ein Unternehmer magisch Krankenhausbetten schaffen würde, während der Matrix Man wissen wollte, wieso er im Gespräch stehen musste (damit wir sehen, wie du in Zeitlupe der Kugel ausweichst, Baby) und den organisatorischen Aufwand von Todesfällen in Corona-Zeiten als das von mir bislang total außer Acht gelassene wahre Übel für Familien herausstrich („Mit einem Todesfall haben Sie einen Monat lang zu tun. Jetzt stellen Sie sich mal vor, das sterben vier, fünf in einer Familie!“). Als der Moderator dann noch anmerkte, dass Suizidtote das Gesundheitssystem wesentlich weniger belasteten als Covid-19-Patienten, da war es ganz um mich geschehen. Ich sank ermattet zurück und wollte eigentlich nichts mehr zu tun haben mit dieser Welt. Ich war stuff. Das Wort ist ja auch deshalb eines der besten, das wir in unserem Dialekt haben, weil es lautmalerisch so treffend den Lebensverdruss wiedergibt. Stuff. Uff.

 

Ich suhlte mich also im Stuff-Sein, bis mir das Wort doch zu profan wurde; da gab es doch noch ein anderes, genau: L’ennui. Im Grunde dasselbe wie Stuffheit, aber klingt auf französisch halt viel eleganter und nimmt zum Verdruss noch jene Komponente der totalen Langeweile an der Welt mit hinein. Ja, das war ich: gelangweilt und verdrossen von dieser Corona-Welt und ihre Akteuren, den Maßnahmen und düsteren Aussichten, den Hoffnungsschimmern und vermeintlichen „gamechangern“, die dann doch schnell wieder in der Versenkung verschwanden. Ich musste mich mit etwas anderem beschäftigen, etwas Erhabenem, mal was anderes lesen als Artikel wie „Was jetzt: Bars offen oder zu?“ oder Facebook-Foren, in denen Menschen sich wegen Kleinigkeiten an die virtuelle Gurgel gehen, weil allen die Låtter geht. Ich langte also ins Bücherregal und holte mir, Stichwort „ennui“, die „Blumen des Bösen“ heraus. Bestimmt schaffte es ein opiumsüchtiger, syphilitischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert, der in nur 18 Monaten sein doch stattliches Erbe mit Prostituierten und dolce vita verprasst hatte, einen auf andere Gedanken zu bringen. Doch der gute Charles enttäuschte mich, enttäuschte mich schwer.

Ich war stuff. Das Wort ist ja auch deshalb eines der besten, das wir in unserem Dialekt haben, weil es lautmalerisch so treffend den Lebensverdruss wiedergibt. Stuff. Uff.

Nicht nur, dass seine Zerrissenheit zwischen „idéal“ (das Gute, Erstrebenswerte) und „spleen“ (das Dunkle, Abgründige) nichts anderes war als die Zerrissenheit des Homo Coronatus zwischen dem Ideal der peniblen Einhaltung der AHA-Regeln und der verführerischen tiefschwarzen Faszination des „Mir hobn jo nix!“. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigte mir unmissverständlich, dass mein buddy Baudelaire bereits 1857 alles vorweggenommen hatte: Tragen seine Gedichte doch Titel wie „Die Maske“ (!!!), „Der Mahner“ (Professor Gänsi!!!), „Der Empörer“ (Kompatscher!!!), „Die Blinden“ (Schlafschafe!!!), „Was erzählst du heut, allein geblieben“ (früher Lockdown!!!) oder „De profundis clamavi“ (später Lockdown!!!). Dazu gleich vier Gedichte, die dem erwähnten „ennui“ gewidmet sind („Die hoffnung flattert wie eine fledermaus“, no na), und was ist der Trübsinn, wenn nicht der emotionale Soundtrack der Coronakrise. Baudelaire, der alte Opium-Zausel wusste damals alles schon, sogar das Zurückdrängen der Frauen aus dem öffentlichen Raum in die häusliche Enge hatte er mit „Verdammte Frauen“ prophezeit. Egal, dass es in den Gedichten selbst dann hauptsächlich um Brüste, Wein, Wahnsinn und Todesfantasien geht: Das Puzzle ergab, anders als jenes in Meran offenbar, einen Sinn. Endlich hatte ich auch meine ganz persönliche Verschwörungstheorie: Baudelaire war’s. Neu gestärkt durch diese Erkenntnis ging ich fiebrig (wie eifrig, nicht erhöhte Temperatur, bitteschön) daran, die Lösung des Rätsels zu finden, denn die war dann auch gewiss im Gedichtband versteckt, so will es das Verschwörungstheoriegesetz. Und siehe da: „Das stück war an – ich wartete noch immer“, heißt es im „Traum eines Neugierigen“, und das ist jetzt zwar nicht genau die Antwort, über die wir uns freuen, aber doch recht treffend: So schnell wird das alles nicht vorbei sein. Richten wir uns darauf ein. Baudelaire hat gesprochen.