Gesellschaft | Allerheiligen

"Wie oft gehen wir zu weit?"

Sterben und der Tod sind für die Krankenschwester Monique Barger nicht nur zu Allerheiligen aktuell. Ein Gespräch übers Loslassen, Tabubrüche und Selbstbestimmung.
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Foto: Foto: Privat

salto.bz: Allerheiligen – ein Tag der in Südtirol traditionell mit einem Friedhofsbesuch verbunden ist, um verstorbener Menschen zu gedenken. Wie hält das eine Holländerin, die wie Sie schon lange Jahre in Südtirol lebt?
Monique Barger: Für mich als Atheistin bleibt dieser Gang zu den Gräbern ein ungewöhnliches Ritual. Also, am 1. November ist es hier tatsächlich schwierig, mit jemandem etwas zu unternehmen, weil alle auf die Friedhöfe rennen. Mit bleibt das fremd. Ich gedenke meiner Toten das ganze Jahr über, an ihren Geburtstagen, Todestagen oder eben einfach so. Weil ich im Vorbeigehen an einem Foto hängen bleibe oder sie einfach aus einem anderen Grund in meinen Gedanken sind. Aber Kerzen zünde ich für sie zum Beispiel auch an, nur eben zu Hause.

Atheistinnen haben wohl überhaupt einen anderen Blick auf das Leben nach dem Tod als Katholiken?
Ich komme aus Amsterdam und der Norden Hollands ist im Gegensatz zum Süden tatsächlich sehr protestantisch bis atheistisch geprägt. Entsprechend nüchtern ist dort das Verhältnis zum Tod. Tot ist tot, könnte man es flapsig beschreiben. Ich dagegen habe mich diesbezüglich schon gewandelt, ich denke schon, dass es auch nach dem Tod noch etwas gibt.

Als gelernte Krankenschwester war der Tod  aber auch in Ihrem Leben schon immer recht präsent.
Absolut, das zieht sich durch mein ganzes Berufsleben. Ich war fast immer auf Intensivstationen, in Notaufnahmen oder in der Palliativpflege tätig. Seit Jahren arbeite ich nun am Krankenhaus Bozen bei den Vorbereitungen mit Frauen, die sich für eine Schwangerschaftsunterbrechung entscheiden. Und selbst bei meiner neuen Arbeit, dem Projekt einer innovativen Seniorenresidenz am Ritten,  habe ich bereits meine erste Sterbende begleitet.

Geht es dort nicht darum, Menschen im Alter ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen?
Ja, doch dazu gehört es auch, selbstbestimmt sterben zu können. Diese Frau, die eine Bauchspeicheldrüsenkrebs-Diagnose hatte, hatte ab einem bestimmten Zeitpunkt bewusst gewählt, die Behandlungen einzustellen und ihre letzten Wochen in einer schönen Umgebung statt in einem Krankenhaus zu genießen. Und das hat sie auch tatsächlich getan, in Begleitung ihrer Tochter. Sie ist dann auch noch täglich auf der Sigmund-Freund-Promenade vor dem Haus spazieren gegangen, halt jeden Tag ein bisschen kürzere Strecken bis sie dann im Bett bleiben musste.

In einer Jugendstilvilla auf dem Ritten lässt es sich leichter vom Leben Abschied nehmen als in einem Krankenhausbett.
Wir haben mittlerweile im Krankenhaus eine gute Palliativabteilung. Doch ich habe die Erfahrung gemacht,  dass viele Menschen, die ohnehin schon eine lange Krankheitsgeschichte haben, Schwierigkeiten haben, wieder ins Krankenhaus zu gehen, um zu sterben. Und natürlich ist das Ambiente zum Beispiel bei uns im Haus ganz ein anderes. Wir sind auch keine Palliativstation, sondern ein Ort, wo Menschen aus verschiedenen Gründen eine Auszeit nehmen können oder eben ihren Lebensabend in einer eigenen Wohnung, doch in Gemeinschaft genießen können. Doch ich habe mittlerweile ein entsprechendes Team gefunden, um hier auch Leute beim Sterben begleiten zu können.

Sterben, der Tod – schon allein diese Wort lassen viele Menschen schauern. Wenn Sie darüber sprechen, leuchten dagegen ihre Augen. Warum?
Weil es mich einfach fasziniert, Menschen auf diesem letzten Weg zu begleiten. Für mich ist es einfach wunderschön, wenn jemand mit einem Lächeln auf seinem Gesicht stirbt. Denn das heißt für mich, dass sie oder er es akzeptieren kann, auf die andere Seite zu gehen, was auch immer dort sein mag.  Und Menschen noch einmal das bieten zu können, was das Leben so schön macht und ihnen zu helfen, friedlich und versöhnt zu gehen, gibt auch mir eine große Befriedigung.

"Natürlich kann man sagen, wer sind wir, zu entschieden, ein Leben zu beenden. Doch meine Gegenfrage lautet: Wer sind wir zu entschieden, ein Leben auf diese Art und Weise zu verlängern."

War das schon immer so?
Eigentlich schon, auch wenn diese Faszination im Laufe meines Lebens gewachsen ist. Aber ich habe mich schon früh mit der Frage auseinandergesetzt, was gutes Sterben ist. Auch weil in Holland auf der Intensivstation auch Krankenschwestern in die Entscheidung miteinbezogen werden, wie lange eine Behandlung fortgesetzt wird bzw. wann die Maschinen abgeschaltet werden.

Ihrer Erfahrung nach gibt es ein gutes Sterben?
Ja, absolut. Natürlich ist es ein großes Mysterium, weil uns abgesehen von Erzählungen über Nahtoderfahrungen niemand darauf vorbereiten kann, was uns erwartet. Doch bei manchen Sterbenden spürt man einfach, dass sie jetzt gehen wollen, oft so richtig sanft hinübergleiten. Und das hat etwas sehr Schönes. Dann gibt es natürlich auch solche, die Angst haben. Doch zumindest können wir heute die Menschen dank moderner Medizin beruhigen, dass sie nicht leiden müssen. Man muss nicht mehr Angst haben, zu ersticken oder Schmerzen zu haben. Wir können Sterben vor allem begleiten.

Wir sterben also leichter heute. Vielleicht in Holland noch ein wenig leichter als in Italien, da dort Euthanasie zugelassen ist?
Wegen dieser aktiven Euthanasie wird Holland oft angegriffen. Doch ich kann versichern, dass die Entscheidung über Leben und Tod auch dort eine extrem schwierige Situation bleibt. Auch in Holland setzt kein Arzt ganz einfach eine Spritze. Abgesehen davon, dass jeder Fall streng von sogenannten Scan-ÄrztInnnen beurteilt wird.

Was wird da beurteilt?
Wie aussichtlos die Diagnose ist, ob die Patientin oder der Patient seine Entscheidung bei vollem Bewusstsein getroffen hat, solche Fragen. Aber natürlich: Wenn man hier in Südtirol mit Moraltheologen wie einem Martin Lintner spricht, entgegnen die, dass ein Patient überhaupt nicht über seinen Tod zu entscheiden hat. Und ich persönlich finde es auch gut, dass es über solche Frage eine breite Diskussion gibt.

Sie selbst haben aber in einem sehr persönlichen Fall Sterbehilfe geleistet, beim Tod ihrer Schwester.
Meine Schwester war eine aktive und sehr sportliche Frau, die dann im Alter von 51 Jahren an einem sehr aggressiven Gehirntumor  erkrankte. Sie hat anfangs gegen die Krankheit gekämpft,  alle Therapien gemacht. Doch als dann ein Jahr nach der Diagnose ein weiterer Tumor am Gehirnstamm diagnostiziert wurde, war für sie klar, dass sie nicht mehr konnte. Vor allem, weil ihr in einem fort so übel war, dass keine Lebensqualität mehr gegeben war.  Und so haben wir dann drei Wochen später noch mit der ganzen Familie, ihren Kindern, ihrem Mann, Abschied gefeiert, gut gekocht, sie hat sogar noch einen Schluck Wein genommen. Und dann konnte sie zu Hause im Kreis ihrer Familie gehen.

Dank einer Spritze?
Dank einer Infusion, das war noch sanfter. Wir hatten auch ihre Kinder dabei und es sollte wirklich so friedlich, wie es nur geht, passieren. Und so war es auch. Und wir alle, meine Nichten, mein Schwager,  ich, denken alle noch heute mit Frieden an diesen Moment, der uns auch sehr vereint hat.

Was macht es uns dagegen in unserem System schwierig, in Frieden zu sterben?
Vor allem, dass wir so schwer Abschied nehmen können, uns so schwer tun, zu akzeptieren, dass ein Mensch einfach gehen darf. Wenn man im Krankenhaus arbeitet, vor allem auf der Intensivstation, taucht schon die Frage auf: Wie oft gehen wir zu weit, mit all unseren Künsten der modernen Medizin, ohne die Frage zu stellen, ob das jemand überhaupt alles will. Das finde ich persönlich oft extrem schwierig.

Dabei waren Sie Teil einer Ethik-Beratungsgruppe im Krankenhaus, die Anfragen behandelt hat, bei schwierige Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen in Form einer Beratung zu helfen.
Doch die Entscheidung, mit einer Therapie aufzuhören, ist wirklich schwierig zu treffen. Ich bin der Meinung, dass wir so weit kommen sollten, dass die PatientInnen selbst diese Verantwortung tragen können. Denn wenn klar auf einem Papier steht, was jemand möchte und vor allem, was sie oder er nicht möchte, denn darum geht es ja vor allem, wird es für alle einfacher. 

"Ich wünsche mir, dass wir alle leichter über den Tod reden können. Dass es nicht mehr so schwierig ist, jemanden, der den Tod vor sich hat, zu fragen: Wie geht es dir damit, dass du nicht mehr lange zu leben hast?"

Damit sind wir beim Thema Patientenverfügung?
Ich bin eine totale Verfechterin der Patientenverfügung. Ich finde, wir sollten alle eine haben, auch junge Menschen. Oder wir sollten zumindest unseren Angehörigen mitteilen, was uns im Ernstfall wichtig ist, was wir auf keinen Fall wollen. Ich persönlich würde nie meinen Kindern die Verantwortung überlassen wollen, über mein Leben entscheiden zu müssen.

Vor allem, weil Angehörige in vielen dieser Situationen ohnehin so belastet sind, dass es noch einmal schwieriger wird.
Schwierig ist es immer. Doch wenn es eine Willenserklärung des Patienten gibt, ob auf dem Papier oder kommuniziert, wird es zumindest ein wenig einfacher. Wobei wir dazu sagen müssen, dass es dann ohnehin in den Händen des behandelnden Arztes oder der Ärztin liegt, ob diesem Willen entsprochen wird. Da hängt dann vieles davon ab, in welchem Krankenhaus man liegt und wer einen behandelt. Denn es gibt Fälle, wo es gemacht wird, während andere sagen, wir machen weiter.

Schließlich legen Ärzte und Ärtzinnen auch einen Eid ab, dass sie alles tun werden, um Leben zu retten.
Eben. Und deshalb geht man bei diesem Thema automatisch in Grauzonen hinein.

Was sind Ihre persönlichen Orientierungspunkte in diesen Grauzonen?
Es gibt da Leitlinien, die vor allem das Wohl des Menschen als Entscheidungskriterium definieren. Aber man muss schon sagen, dass wir hier in Italien anderen Ländern bei dem Thema ziemlich hinterherhinken. Ich zum Beispiel habe meine Ethik-Ausbildung in Österreich und der Schweiz gemacht, und dort gibt es schon ganz andere Standards. Da werden Patienten und Angehörige schon in einem viel früheren Krankheitsstadium begleitet, um Klarheit über die Situation zu haben. Wir dagegen sind als Beratungsteam meistens in einem Stadium gerufen worden, wo ohnehin schon alles gelaufen war.

Kann man also sagen, bei uns sterben Menschen später als sie müssten?
So würde ich das jetzt nicht formulieren. Doch es ist eine Tatsache, dass wir heute viele Möglichkeiten haben, Menschen am Leben zu erhalten. Und wir sollten uns auch beginnen zu fragen, ob das in jedem Fall gut ist. Natürlich kann man sagen, wer sind wir, zu entschieden, ein Leben zu beenden. Doch meine Gegenfrage lautet: Wer sind wir zu entschieden, ein Leben auf diese Art und Weise zu verlängern. Denn früher wäre man in vielen dieser Fälle längst gestorben.

Die Frage muss also lauten, dienen wir mit vielen solcher lebensverlängenden Maßnahmen noch dem Wohl der PatientInnen?
Das ist die wichtigste Frage. Und darauf wird es keine einheitliche Antwort geben, auch wenn wir natürlich bestimmte Leitlinien haben. Doch es geht immer um Menschen, und da ist jeder Fall individuell zu prüfen.  Und oft geben uns die Patienten selbst eine Antwort, war zumindest mein persönlicher Eindruck als ich noch auf der Intensivstation gearbeitet habe. Denn wenn jemand nicht mehr will, spürt man das einfach. Da können wir zwar alle unsere Maschinen auffahren und vielleicht den Blutkreislauf am Leben halten, aber der Geist geht, wenn er will.

Haben Sie an diesem Allerheiligentag noch einen Wunsch für uns alle, im  Umgang mit dem Tod?
Ich wünsche mir, dass wir alle leichter über den Tod reden können. Dass es nicht mehr so schwierig ist, jemanden, der den Tod vor sich hat, zu fragen: Wie geht es dir damit, dass du nicht mehr lange zu leben hast? Und ich wünsche mit vor allem, dass Menschen ihre letzte Lebenszeit genießen können, sie gelassen erleben können.  

Dazu gehört aber auch, dass der Tod nicht ein solche Tabu ist. Denn so bauen wir oft aus Unbeholfenheit und Angst, den Menschen zu nahe zu treten, genau in dieser Situation noch Mauern auf.
Dabei können wir die Betroffenen ganz einfach fragen: Möchtest du noch darüber reden? Das wäre schon einmal ein großer Schritt und ich bin ziemlich überzeugt davon, dass die meisten in dem Fall ziemlich klar wissen, ob sie das wollen oder nicht. Denn Menschen, die sterben, sind viel weiter als die Welt um sie herum. Das habe ich schon oft erlebt, Sterbende sind uns drei Schritte voraus.

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gorgias Mi., 01.11.2017 - 10:07

Ein sehr interessanter Artikel, der den Anstroß geben sollte, das wir in Südtirol den Rückstand in der Diskussion endlich aufholen. Warum traut sich hier niemand etwas zu sagen? Warum kritisiert man nicht die Kirche öffentlich und deren Vertreter in Südtirol in ihren Ansprüchen, ihre Vorstellungen über den Menschen und sein Ende allen anderen aufoktroyieren zu wollen

Mi., 01.11.2017 - 10:07 Permalink