Erben auf Italienisch
Alfredo Pampaloni ist ein Relikt aus der Zeit des italienischen Wirtschaftswunders: als Käsefabrikant und Erfinder des rosafarbenen Gorgonzolas in den 1960er-Jahren reich geworden, hat er eine Vorliebe für Alfa Spider und weiße Sakkos nach dem Vorbild seines Freundes Gunter Sachs. Um das Erbe aufzuteilen, ruft er seine Kinder zu sich ins Feriendomizil: den geldgeilen Sohn und Galeristen in London und die ewig benachteiligte Tochter, jetzt Universitätsprofessorin. Die italienische Komödie nimmt ihren Lauf: Im Bergdorf Solària, inmitten von verrosteten Skiliften und verkommenen Grandhotels, treibt der Patriarch in Mokassins die zukünftigen Erben an den Rand des Wahnsinns. Brennende Häuser, ein verschwundener Millionenbetrag und ein Familiengeheimnis tun das Übrige.
Von Piersandro Pallavicini in der Übersetzung von Karin Fleischanderl. Erschienen bei Folio.
Erben auf Italienisch
Es herrscht dicke Luft, und was macht mein Vater? Er mixt einen
Cocktail. Im purpurroten Hausmantel mit farblich passendem
Halstuch, in Raulederpantoffeln drückt er auf den goldenen Knopf
auf dem Paneel vor dem Kamin, die beiden Wände des hölzernen
Blumenkastens klappen auseinander und aus der Tiefe taucht knirschend
der Servierwagen auf. Die Scotch-, Bourbon-, Cointreauund
Bénédictineflaschen klirren. Cognac-, Armagnac-, Campari-
Bitter-, Ginflaschen erscheinen. Kohorten von Creme de Cassis,
gelbem Curaçao, blauem Curaçao. Eine funkelnde tiefrote Flasche
Grenadine-Sirup. Eine in Papier gewickelte Angostura-Flasche. Und
die dunklen Vermouth-Rosso-, Vermouth-Bianco-, Vermouth-Dry-
Flaschen. Ein silberner Shaker und ein Mixer aus Kristallglas liegen
daneben, griffbereit. Nicht gerade frisch aus der Spülmaschine, aber
man kann sie verwenden. Er drückt auf den weißen Knopf. Das
niedrige Tischchen verschwindet, stattdessen taucht der Kühlschrank
mit den Whiskygläsern, den umgedrehten Martinigläsern,
den Flöten für den Pousse Café, der Zuckerdose, der Zitrone, dem
Eiskübel auf. Wann hat er ihn gefüllt, während wir den Spaziergang
im Wald machten? Oder ist der Eiskübel seit den Siebzigerjahren gefüllt
und die Zitrone ist versteinert? Aber was kümmert das meinen
Vater? Er nimmt den Vermouth Dry und den Gin, mit jeweils einer
Flasche in der Hand breitet er die Arme aus wie ein Gekreuzigter
und lässt seinen Blick über uns schweifen.
„Trinken wir einen echten Martini“, sagt er. „Das ist eines der
drei Dinge, die man vor dem Sterben unbedingt tun sollte. Das
zweite ist, einen echten Risotto à la Milanese zu essen. So wie ihn
Marchesi machte. Der echte. Marcello, nicht Gualtiero.“
Er lacht gurgelnd über seinen Witz, nimmt den Mixer und stellt
ihn in den Eiskübel.
„Zuerst den Mixer kühlen. Es ist besser, wenn man ihn von außen
kühlt. Man kann auch Eis einfüllen, aber bevor man den Likör
eingießt, sollte auch der letzte Tropfen Wasser entfernt sein.“
Mein Sohn sitzt neben mir auf dem langen weißen Sofa an der
Ostseite des Zimmers und betrachtet seinen Großvater mit leerem
Blick, er verrät, dass sein Inneres in Aufruhr ist. Auf den Sofas im
Westen sitzen mein Bruder, wie auf Nadeln, und Bingo und Roderick,
die beiden ausnahmsweise ernsthaft, mit zu Boden geschlagenem
Blick, ausnahmsweise müssen sie sich nicht anstrengen, um das
Lachen zu unterdrücken. Die Atmosphäre ist geladen. Noch hat niemand
etwas gesagt. Margareth? Betrachtet nachdenklich ihre rot lackierten
Nägel. Feuerrot ist auch ihre Haut. Gut. Eiterblasen soll sie
bekommen. Get here, sons, hat sie gesagt, als ihre Söhne endlich nach
Hause gekommen sind und ich sie bereits eine halbe Stunde lang auf
Italienisch angebrüllt hatte, außer mir vor Wut, und sie nichts verstand
oder so tat, als würde sie nichts verstehen. Sie hat sie unter die
Fittiche genommen wie eine Glucke. Max betrachtet das Trio herablassend
und besorgt, als wären sie Kuriositäten aus dem naturwissenschaftlichen
Kabinett, riesige Insekten, die einer seltenen, schrecklichen,
giftigen Spezies angehören. Als die drei endlich wieder vereint
waren, habe ich tief eingeatmet und eine Bitte um Erklärung formuliert,
diesmal auf Englisch und in fast normalem Tonfall. Aber in genau
diesem Augenblick hat der Jaguar in der Auffahrt geheult und
dann hat mein Bruder die Haustür zugeknallt. Er ist die Treppe heraufgestürzt,
hat Carla, Carla geheult, als ob sein Hosenboden brannte.
Das war um sieben Uhr. Vor fünf Minuten genau. In diesem Augenblick
ist mein Vater aus seinem Schlafzimmer aufgetaucht, im
Kardinalsmantel und dem ganzen Zinnober. Zeit für einen Aperitif,
hat er verkündet und leicht in die Hände geklatscht. Da sind wir nun.
„Die Schalen. Auch sie müssen gekühlt werden“, sagt er und füllt
sie mit Eis. „Dann entfernt man das Eis, ja? Man entfernt es und
lässt das Wasser gut abtropfen.“
„Entschuldigen Sie, Signor Alfredo.“ Die Ottolina liegt mit seraphischem
Lächeln auf dem Joe Colombo, die Arme im Nacken verschränkt.
„Entschuldigen Sie, aber wenn der ganze Klimbim, die
Flöten, die Tumbler … wenn das alles aus dem Kühlschrank kommt,
in dem auch der Eiskübel stand, warum sollte man dann die Schalen
in den Kühler legen? Sie haben dieselbe Temperatur. Erstes thermodynamisches
Gesetz, oder nicht?“
Mein Vater sieht sie verdutzt an, mit hängender Kinnlade.
„Die Gläser“, wiederholt er dann, mit der Stimme eines Killerroboters,
„müssen mit Eis gekühlt werden.“
„Ja. Und der Risotto muss auf Feuer gekocht werden. Ich verstehe.
Das können wir als gegeben voraussetzen. Was hingegen ist die
dritte Sache, die man tun muss, bevor man stirbt?“
Mein Vater starrt die Ottolina an, seine Kinnlade hängt noch einen
Millimeter tiefer. Dann platzt er heraus:
„Kusch!“
Und grinsend gießt er Gin in den Tumbler und nimmt die Wermutflasche.
„Drei Viertel Gin. Ein Viertel Wermut. Dry, nicht weißen Wermut.
Dann mixen, nicht schütteln.“
Seine Stimme ist jetzt ein affektiertes Näseln.
„Tu as compris, Bulldogge?“
Die Ottolina, die Heilige, lacht. Er gießt ein. Er erklärt uns, jetzt
fehle nur noch die berühmte, auf einen Zahnstocher aufgespießte
Olive, doch er könne gern auf sie verzichten, sie verfälsche nämlich
den Geschmack. Er kostet.
„Martini“, nickt er. „Ein Meisterwerk.“
Dann seufzt er:
„Die dritte Sache, die man vor dem Sterben tun muss, ist, eine
Frau so zu hofieren, als ob es kein Morgen gäbe.“
Das hat er schon lange nicht mehr gesagt. Die Nummer „Drei
Dinge, die man tun muss, bevor man stirbt“ hat er schon in meiner
Kindheit aufgeführt, in letzter Zeit hat er sie bei jedem Treffen abgezogen.
An erster Stelle kommt immer der Martini. An zweiter
manchmal der Risotto à la Milanese von Marcello Marchesi, manchmal
die Ente in Orangensauce, wie Ugo Tognazzi sie zubereitete. An
dritter Stelle kommt etwas Abstraktes, entweder muss man dem Präsidenten
der Republik (oder dem Bürgermeister von Mailand oder
dem Direktor des Volta-Gymnasiums) einen üblen Streich spielen
oder einen erklärten Feind in aller Öffentlichkeit zwingen, einem
Komplimente zu machen. Das Hofieren einer Frau folgt meistens
auf etwas anderes, nämlich nicht auf Risotto und Ente, sondern auf
die Bouillabaisse, wie sie Brigitte Bardot in Saint-Tropez zubereitete.
Denn von Brigitte Bardot ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Gunter
Sachs, dem ultimativen Vorbild in Sachen Hofieren kurz vor dem
Weltuntergang. Mein Vater teilt die Schalen aus. Diesmal zum Glück
nur den Erwachsenen. Der Ottolina drückt er unfreundlich ein Glas
in die Hand, vergießt ein paar Tropfen über dem Joe Colombo. Sie
nimmt es und kläfft zum Spaß. Er ignoriert sie von oben herab.
„Papa.“
Mein Bruder atmet tief ein und wagt einen Vorstoß.
„Papa, ich war gerade eben in der Bank in Rovereto. Dort hatten
sie schlechte Neuigkeiten für mich.“
Aber er kämpft auf verlorenem Posten, Papa ignoriert auch ihn
von oben herab und palavert, palavert, in Gedanken ist er schon bei
seinen goldenen Jahren, in Saint-Tropez bei seinem Freund Gunter.
Als junge Mädchen waren ich und die Ottolina davon überzeugt,
dass man Sachs mit x schriebe, Sax, und dass Gunter die deutsche
Antwort auf Fausto Papetti wäre: ein teutonischer und schmalziger
Saxofonist, ein besonders übler Vertreter des Easy Listening. Dank
der Kollektion meiner Freundin landeten auch verschiedene deutsche
Gruppen auf meinem Plattenteller: Amon Düül, Tangerine Dream,
Can, die Popol Vuh, kurz und gut, das, was man in den Siebzigerjahren
als Krautrock bezeichnete. Seltsames, düsteres Zeug, das nicht
einmal der Ottolina wirklich gefiel, sie liebte ja die süßlich-melodischen
Phantasmagorien des englischen Progressive. Mir kamen bei
dieser Musik die Tränen und ich musste das Schlafzimmer, wo wir
die Platten im Dunklen anhörten, fluchtartig verlassen – die Lämpchen
des Equalizers hatten dabei einen psychedelischen Effekt –, ich
lief in die Küche, wo mich Zagabria mit einem Sandwich tröstete.
Während ich dem Krautrock noch ein Mindestmaß an Intellektualität
zugestand, repräsentierte das imaginäre Saxofon Gunters – eines
Deutschen und des reinen Gegenteils von Progressive Rock – alles, was man hassen musste. Und dann passierte Folgendes:
Eines Freitag nachts schlief die Ottolina bei mir. Meine Mutter
und mein Vater waren übers Wochenende nach Solària gefahren,
mein Bruder war in Meina, in der Villa eines seiner kleinen Faschistenfreunde
von der Universität. Wir beide, allein, frei, blieben bis
zwei Uhr morgens wach. Wir hatten den TV-Sender Tele Radio Milano
2 eingestellt. Wir warteten auf den Porno. Es war ’79, wir wussten
alle, dass Trm2 freitags und dass Telereporter samstags Pornos
sendeten. Alle unsere Klassenkameraden sprachen darüber, Edo und
seine Altersgenossen sprachen darüber. Fickstreifen, so nannten sie
ihn. Und da es damals noch keine Videorecorder gab, leerten sich
um halb zwei Straßen, Bars und Diskotheken, denn jedes männliche
Wesen eilte nach Hause und machte den Fernseher an. Wir beide
hatten noch nie einen gesehen. Aber ja doch: Wir waren brave unschuldige
Mädchen aus guter Familie, wir entsprachen perfekt dem
Klischee und es gefiel uns sogar. Doch in dieser Nacht bot sich uns
eine einmalige Gelegenheit. Zuerst lief ein endlos langes Hockeyspiel,
dann kündigte die Fernsehsprecherin den Sendeschluss an, der
Bildschirm blieb einige Minuten lang schicksalshaft grau und erwachte
dann zu neuem Leben, verwackelte Bilder tauchten auf, ohne
Moderation und ohne Vorspann, wir warteten mit angehaltenem
Atem und wild klopfendem Herzen auf die Offenbarung.
Und da war er, der Porno. Zwei fünfzigjährige Männer, so sexy
wie der Yogibär, paarten sich mit einer mageren, müden, zerzausten
Frau, die es gar nicht erwarten konnte, sich so schnell wie möglich
aus dieser Situation zu befreien. Die beiden alten Männer mit Bauch
und Glatze hatten sich nicht einmal ausgezogen. Sie hatten die Hose
bis zu den Knöcheln hinuntergelassen, trugen Schuhe, hatten sich
den Krawattenknopf gelockert und nur ein paar Hemdknöpfe geöffnet,
die untersten, um die Schamteile freizulegen. Sie saßen auf einem
gelben Samtsofa und sprachen Deutsch, zogen das Fräulein an den
Haaren, drückten ihren Kopf nach unten und lachten lauthals. Auch
wir kicherten, teils angewidert, teils erleichtert. Wenn das ein Porno
war, dann waren Alan Ford oder die Genesis entschieden besser. Und
als die Akteure voll loslegten, und das Röcheln und die seligen „Gut!“-
Ausrufe auch noch von einer rhythmischen Musik mit einer Saxofonmelodie
begleitet wurden, explodierten wir.
„Das ist Gunter Sax!“
Immer wenn mein Vater später von seinem angeblichen Freund
sprach, musste ich an einen dicklichen Mann mit heruntergelassener
Hose denken, mit rötlichen, buschigen Schamhaaren und krummem
Steifen, der einem Tenorsaxofon Easy Listening abverlangte. So auch
jetzt in Solària, obwohl alle wütend mit den Füßen scharren und ganz
andere Sorgen haben. Ich muss an ihn denken, obwohl ich mittlerweile
sehr gut weiß, wie das Gesicht des berühmten internationalen
Playboys aussieht, wie seine Legende und seine Reichtümer beschaffen
sind. Ich denke an ihn, und als mir die Ottolina einen verstohlenen
Blick zuwirft und unter ihrem Damenbart lächelt, weiß ich, dass
auch sie an ihn denkt. Mein Vater tischt uns eine Geschichte auf, in
der es um einen Mann geht, der sich in eine Frau verliebt hat und sie
hofiert, als ob es kein Morgen gäbe, natürlich ist die Rede von Gunter
Sachs, und wie immer spielt sie in Saint-Tropez, im Sommer ’66.
Piersandro Pallavicini
Geboren 1962 in Vigevano, lebt mit seiner Familie in Pavia, Lombardei (Italien). Er verfasst regelmäßig Beiträge für Zeitschriften, Comics, Rock- und Heavy-Metal-Magazine und Rezensionen für die Literaturbeilage „TuttoLibri“ von „La Stampa“.
Im Hauptberuf ist er Professor für Chemie an der Universität Pavia im Fachgebiet Nanotechnologie für medizinische Anwendungen.
Seit 1999 literarische Veröffentlichungen, u. a. „Il mostro di Vigevano“ (1999), „Madre nostra che sarai nei cieli“ (2002), „Atomico dandy“ (2005), „African inferno“ (2009).