Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass das längst bröckelnde Dogma päpstlicher Unfehlbarkeit nichts anderes ist als ein anachronistisches Relikt früherer Zeiten - Joseph Ratzinger hat ihn geliefert. Der ehemalige Papst Benedikt XVI wird in Sachen Missbrauch nicht etwa von höheren Einsichten geleitet, sondern vom niederen Instinkt, sich um jeden Preis gegen Vorwürfe zu schützen, die zum Thema Missbrauch erhoben werden - gegen ihn, den Vatikan, sein früheres Münchner Bistum und die katholische Kirche insgesamt.
Aussagen des emeritierten Papstes zu seiner Rolle im Umgang mit einem nach Bayern versetzten Missbrauchstäter sind aus Sicht des angesehenen Kirchenrechtlers Thomas Schüller eine klare Lüge. "Er hat eindeutig gelogen," so Schüller in der ARD-Sendung Brennpunkt. Benedikt hatte mehrmals betont, an einer Sitzung im Jahr 1980 nicht teilgenommen zu haben, in der beschlossen wurde, dass ein Priester, der im Bistum Essen Jugendliche missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Es habe sich um ein Versehen gehandelt. Die falsche Angabe, er sei "bei der Sitzung nicht dabei gewesen", beruhe auf einem Missverständnis. Ratzinger: "Dass dieses Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, hat mich tief getroffen".
Er hat eindeutig gelogen.
ARD-Kirchenexperte Thomas Schüller
Bald aber werde er "vor den Obersten und unfehlbaren Richter treten". Konkrete Vertuschungsversuche weist der 94-jährige zurück. Er wolle jedoch "seine tiefe Scham und seine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern zum Ausdruck bringen". Wähend der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, Benedikts Ersuchen um Entschuldigung noch begrüsst hatte, erklärte der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck: "Ich befürchte, dass die Erklärung den Betroffenen in ihrem Aufarbeitungsprozess wenig weiterhelfen kann". Opfer sexualisierter Gewalt hätten sich beim Beauftragten des Bistums gemeldet und "enttäuscht und entrüstet" auf Benedikts Aussagen reagiert. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken wertete Ratzingers Ausführungen als zu vage und allgemein. "Die Empathie gegenüber den Betroffenen fehlt", so die Präsidentin Irme Stetter: "Die zweite Reaktion von Papst Benedikt überzeugt leider nicht." Die Bundesregierung hat die katholische Kirche zur Aufarbeitung aufgefordert. Die Folgen des jüngsten Eklats schildert der Westdeutsche Rundfunk WDR: "Die Kirchenaustritte sind momentan kaum mehr zu stoppen."