Gesellschaft | Obdachlosigkeit

Nacht im Dormizil

Das Nachtquartier "dormizil", das allein durch Freiwillige getragen wird, bietet Obdachlosen in Bozen einen würdigen Schlafplatz im kalten Winter: "ein Menschenrecht".
dormizil
Foto: Madja Brecelj

Pünktlich um halb acht drängen die ersten Bewohner in den Eingangsbereich der Rittnerstraße 25 in Bozen. Die Atemwolken von den Gesichtern gewischt, kramen sie mit erstarrten Fingern ihren Bewohnerausweis aus der Tasche, setzen eine rasche Unterschrift neben ihren Namen und verschwinden über das Treppenhaus hinauf in die geheizten Zimmer. Sie haben es eilig, der klirrenden Winterkälte zu entfliehen. Zumindest für die Nacht.

 

Recht auf Wohnen?

 

“Sie”, das sind die 23 Bewohner des Nachtquartiers dormizil, das obdachlosen Menschen von November bis März einen Platz zum Schlafen und ein Frühstück bietet. Sie sind jene Obdachlose, die das Glück hatten, in dem von der Haselsteiner Privatstiftung gespendeten Gebäude Unterschlupf zu finden. Gleichzeitig sind sie aber auch jene Menschen, deren Recht auf einen Platz zum Wohnen verwehrt wird und vom privaten Einsatz und Engagement der Freiwilligen abhängig bleibt.

 

“Es gibt in Bozen kaum Ansätze, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen”, erklärt Christian Anderlan, Gründungsmitglied des Vereins “housing first”, der zusammen mit Paul Tschigg, Sigrid Bracchetti und Verena von Aufschnaiter die Arbeit im dormizil koordiniert. “Es gibt Notunterkünfte für Hunderte Personen im Winter, aber jedes Jahr stehen wir wieder vor dem gleichen Problem. Es fehlen langfristigen Lösungen, die den Menschen einen Startpunkt bieten können.”

Genau so einen Startpunkt möchten die Initiatoren des Projekts den dormizil-Bewohnern bieten: Was diesen Winter noch als permanentes Nachtquartier dient, soll - sobald genügend Gelder vorhanden sind - in zwölf eigenständige kleine Wohnungen umgebaut werden. Bis es so weit ist, ist das dormizil vor allem eines: ein warmes Bett im kalten Winter. Dabei geht es nicht darum, so viele Menschen wie möglich aufzunehmen, sondern denen, die aufgenommen werden, einen würdigen Schlafplatz zu bieten. “Natürlich wären noch mehr Betten und Matratzen möglich”, erklärt Anderlan. “Aber wir müssen aufhören, nur in Zahlen zu denken. Hier finden die Bewohner ein warmes Bett, eine Dusche, etwas Privatsphäre und einen Platz, den sie morgens verlassen und abends wieder vorfinden können.”

 

Männer, die Geschichten erzählen

 

Die Männer, die in diesen Wochen und Monaten im dormizil Unterschlupf finden, sind alt, jung, schwarz, weiß, sprechen polnisch, deutsch, dialekt, italienisch, englisch oder arabisch. Manche von ihnen leben schon jahrelang auf der Straße, andere wurden erst vor Kurzem auf die Straße gedrängt. Einige haben einen Kontakt, den sie im Notfall anrufen können, bei anderen bleibt die entsprechende Zeile leer.

 

Wie Anderlan erklärt, habe man versucht, Bewohner auszuwählen, die ein gutes Zusammenleben ermöglichen und keine spezielle Betreuung benötigen; auch deshalb, weil sie als Freiwillige kaum die nötigen Kenntnisse und Voraussetzungen für eine solche Betreuung haben. “Viele der Menschen, die bei uns wohnen, kannten wir bereits”, erklärt Anderlan. “Einige von der Essensausteilung beim Vinzibus, andere aus dem Winterhaus und wieder andere wurden über Bekannte zu uns geschickt”.

 

Kurz nachdem die meisten Bewohner ins Warme geschlüpft waren, gesellen sich einige von ihnen in den Gemeinschaftsraum, wo zwei Freiwillige heißen Tee, Kekse und einige Frühstücksreste bereitstellen. Einer der Bewohner sitzt mit dem Rücken zu den anderen im Gemeinschaftsraum, trinkt stillschweigend seinen Tee und isst noch etwas Brot. Er esse lieber alleine, meint er, und auch sonst ziehe er sich von den anderen zurück. Trotzdem ist er froh, hier zu sein. “Hier ist es warm und ruhig. Ich kann mich zurückziehen, wenn ich möchte und vor allem kann ich schlafen." Dass das in einem Nachtquartier keine Selbstverständlichkeit ist, weiß er aus Erfahrung: “Ich habe früher im Messegebäude oder im Alimarket geschlafen. Es waren so viele Menschen dort und es war unglaublich laut. Ich war den ganzen nächsten Tag nur müde.” 

 

Ähnlich ist es einem jungen Algerier ergangen, der am Nachbartisch eine Handvoll Kekse in kleinste Stücke zerteilt, um sie dann - Stück für Stück - genüsslich in seinen Mund zu schieben. “Wenn ich hier aufwache, weiß ich, wo ich mich morgens waschen kann”, erzählt er. “Wenn ich draußen schlafe, suche ich meist den ganzen nächsten Tag nach einer Möglichkeit, um mich zu waschen. Und wenn ich eine gefunden habe, ist der Tag schon wieder vorbei. So kann ich mich nicht weiterentwickeln, ganz im Gegenteil: Ich falle immer weiter zurück.” Auch wenn es ihm im dormizil recht gut gehe, sucht er tagtäglich nach einer Arbeit, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Aber die Arbeitssuche gestaltet sich für den Kochgehilfen in Ausbildung schwierig: “Durch die Pandemie ist es noch schwieriger geworden, eine Anstellung zu finden. Ich habe einige Wochen in der Landwirtschaft mitgeholfen, dann war ich wieder arbeitslos.”

Aber nicht alle Bewohner sind arbeitslos. Manche machen Gelegenheitsjobs, andere haben eine Anstellung, können sich aufgrund der prekären Verhältnisse aber keine Wohnung leisten oder finden niemanden, der ihnen eine Wohnung vermietet.

 

Kein Luxus, ein Anfang

 

Trotz der vielen Kontraste, die sich in Sprache, persönliche Erfahrungen und Kulturen deklinieren, sind Streits und Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern eher die Ausnahme als die Regel. “Bis jetzt hat es eigentlich ganz gut funktioniert”, erzählt Anderlan, “es gibt natürlich immer wieder Streitigkeiten - wie in einem normalen Haushalt halt auch - im Großen und Ganzen ist es aber sehr ruhig im Haus”. Eine Tatsache, die zusammen mit der Überschaubarkeit und menschlichen Wärme der Einrichtung auch das Interesse der Freiwilligen fördert: “Wir haben unglaublich viele Freiwillige, die sich für die Nacht- und Frühstücksdienste melden”, so Anderlan. “Wir schaffen es kaum, sie alle für einen Dienst einzuteilen.”

 

Die getönten Lichter, die dicken Daunenbetten und der Überfluss an Keksen lässt einen für einen kurzen Moment vergessen, dass die Bewohner morgens - wenn die Freiwilligen zur Arbeit oder nach Hause gehen - nach einem raschen Frühstück wieder hinaus in die Kälte geschickt werden, wo die meisten den Tag bis zum Abend verbringen. Ein selbstständiges Leben aufzubauen bleibt schwer.

Kein Luxus, ein Anfang.

 

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Michael Bockhorni So., 06.03.2022 - 11:04

ein Bewohner ausgewählt werden, die ... keine spezielle Betreuung benötigen; heisst das im Umkehrschluss, daß sie Schlichtwegs vom (privaten wie öffentlichen) Wohnungsmarkt ausgeschlossen also (zumeist der Herkunft wegen - "nur für Einheimische") diskriminiert werden. Menschen in Wohnungsnotlagen (Wohnungs- bzw. obdachlos oder in prekären Wohnsituationen - siehe ETHOS Kriterien) haben immer auch einen (ambulanten) Betreuungsbedarf zur Bewältigung ihrer Lebenssituation, auch im Housing First Ansatz.

So., 06.03.2022 - 11:04 Permalink