Umwelt | Pestizidprozess
Geplatzte Seifenblase
Foto: Umweltinstitut München
Das Ende gleicht dem Hornberger Schießen.
Nach über einer zweijähriger Ermittlung und einem Prozess der weitere 20 Monate gedauert hat, platzt eines der aufsehenerregendsten Verfahren gegen eine Umweltorganisation in Europa wie eine Seifenblase. Das Landesgericht Bozen hat heute im sogenannte Südtiroler Pestizidprozess einen Schlussstrich gezogen und Karl Bär auch vom letzten noch verbliebenen Anklagepunkt freigesprochen.
„Im Oktober 2020 hatte der Europarat die Klagen gegen meinen Mandanten in Südtirol als strategische Klage und damit als Angriff auf die Meinungsfreiheit eingestuft. Heute haben wir die Bestätigung darüber auch gerichtlich”, sagt Rechtsanwalt Nicola Canestrini nach dem Freispruch. Canestrini hat zusammen mit Francesca Cancellaro Karl Bär und das Münchner Umweltinstitut in diesem Prozess verteidigt.
Die Klage
Anlass der Klage gegen Karl Bär vom Umweltinstitut München war die provokative Aktion „Pestizidtirol“ im Sommer 2017. In deren Rahmen platzierte die Münchner Umweltschutzorganisation ein Plakat in der bayerischen Hauptstadt, das eine Tourismus-Marketing-Kampagne für Südtirol sowie die Südtiroler Dachmarke satirisch verfremdete (“Pestizidtirol” statt “Südtirol”). Zusammen mit einer Website hatte die Aktion zum Ziel, auf den hohen Pestizideinsatz in Südtirol aufmerksam zu machen.
Es folgte eine Strafanzeige von Landesrat Arnold Schuler und 1370 Südtiroler Bauern und Bäuerinnen wegen übler Nachrede und Markenfälschung. Die Folge davon war ein europaweiter Protest, der nicht nur im deutschen Sprachraum einiges an Negativwerbung für das Land Südtirol auslöste.
Nachdem die Staatsanwaltschaft Bozen nach den Vorermittlungen, Anklage gegen Karl Bär erhob, beginnt 2020 der Prozess am Bozner Landesgericht. Nach vier Prozesstagen ziehen Arnold Schuler und 1373 Bauern ihre Klage wieder zurück. Der SVP-Politiker und Karl Bär, der im September 2021 als Abgeordneter der Grünen in den deutschen Bundestag eingezogen ist, finden zudem eine gemeinsame Gesprächsbasis. Am Ende weigern sich nur zwei Tschirlander Bauern ihre Klagen zurückzuziehen. Deshalb geht der Prozess Anfang 2022 weiter. Wenig später lenken aber auch dieses zwei Brüder ein.
Damit bleibt aber ein Anklagepunkt aufrecht: Markenfälschung. Gemeint ist damit die Verballhornung der Südtirol-Marke. Weil es dabei um eine sogenanntes „Offizialdelikt“ handelt, kann die Staatsanwalt diesen möglichen Strafbestand auch nach dem Rückzug der Anzeigen weiterverfolgen. Genau das hat die Bozner Staatsanwaltschaft auch beantragt.
Die Wende
Am Freitag kommt es im Prozess aber zum Paukenschlag.
Staatsanwältin Federica Iovene beantragt am heutigen Prozesstag eine Änderung der Anklage in üble Nachrede. Mit dieser Änderung der Anklage wendet sich das Blatt unmittelbar zugunsten Bärs, weil bei Prozessen wegen vermeintlicher übler Nachrede ein Rückzug aller Anzeigen zu einem sofortigen Freispruch führt.
Richter Ivan Perathoner erklärte damit die „Unzulässigkeit des Verfahrens“, was zum sofortigen Freispruch von Karl Bär führt.
“Südtirol hat ein Pestizidproblem. Der hohe Einsatz von Chemikalien im Apfelanbau schadet der Umwelt und den Menschen in der Umgebung. Der Versuch der Landesregierung, Kritik am Pestizideinsatz juristisch zu unterbinden, ist gescheitert. Dieses Urteil ist wegweisend für alle in Europa, die sich für eine gesunde Umwelt und Natur einsetzen", kommentiert Karl Bär den Freispruch.
Auch Anwalt Nicola Canestrini sieht den Freispruch als richtungsweisend. „Der Urteilsspruch muss eine Mahnung an alle mächtigen Personen und Unternehmen sein, die Justiz nicht weiter zu missbrauchen, um Kritiker und Kritikerinnen mit zeitraubenden und kostspieligen Gerichtsverfahren einzuschüchtern“, sagt der Strafverteidiger.
Die Ausweispflicht
Zu Beginn der Verhandlung kommt es am Landesgericht zu einer unschönen Szene. Weil der leitende Staatsanwalt Giancarlo Bramante dieses Verfahren als „Prozess mit hohem Risiko“ eingestuft hat, wurden am Landesgericht besondere Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt. So musste alle Prozessbeteiligten und -beobachter ihre Identitätskarten abgeben, die registriert wurden. Selbst die Anwälte und die Journalistinnen. Vor allem bei einigen deutschen Parlamentariern und bayrischen Landtagsabgeordneten hat diese Registrierungspflicht zu massivem Unverständnis und Unmut geführt. Man will offiziell gegen diese Vorgangsweise protestieren.
Auch inhaltlich wird die Diskussion um den Pestizideinsatz in Südtirol noch weitergehen. Denn das Umweltinstitut München wertet derzeit die Betriebshefte von etwa 1200 Obstbäuerinnen und -bauern aus, die ursprünglich Anzeige gegen Karl Bär erstattet hatten. Diese wurden im Prozess auf Antrag der Staatsanwaltschaft als Beweismittel sichergestellt. Die Hefte enthalten Angaben darüber, welche und wie viel Pestizide die Betriebe im Jahr 2017 verwendet haben. Die Ergebnisse der Auswertung dieser Daten sollen auf einer öffentlichen gemeinsamen Veranstaltung mit Vertretern der Obstwirtschaft dann in Südtirol vorgestellt werden.
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Die Seifenblase ist nicht
Die Seifenblase ist nicht geplatzt, die Staatsanwaltschaft hat sie durch kurzfristige Abänderung des Anklagepunktes, für dessen Abhandlung es dann keine Voraussetzung, sprich Klage, gab platzen lassen. Weshalb wird wohl ein Geheimnis bleiben, denn einen Anfängerfehler würde ich der Staatsanwaltschaft nicht vorwerfen wollen.
Das Verfahren wurde wegen Unzulässigkeit eingestellt, das ist nicht gleichbedeutend mit einem Freispruch. Das ist ungefähr so viel wert wie eine Verjährung, oder der Freispruch aus Mangel an Beweisen: Juristisch ein Schlusspunkt, moralisch ein Makel.
Antwort auf Die Seifenblase ist nicht von Manfred Klotz
Moral?
Moral?
https://twitter.com/c_barthol
Der Handel und der größte
Der Handel und der größte Teil der Konsumenten orientieren sich nur am Preis. Nachhaltigkeit, Tierwohl und andere Überlegungen verschwinden beim Griff zur Geldtasche. Andererseits, zu viele Konsumenten können sich solche Bedenken leider gar nicht leisten.