Gesellschaft | Zebra
Mein Leben als Retortenbaby
Foto: upi
Es ist -190°C kalt. Fünf Monate verbringe ich in der Eiswüste aus Stickstoff im Brunecker Krankenhaus. Zuvor war ich mittels In-vitro-Fertilisation gezeugt worden.
Wer glaubt, ich hätte es von Anfang an einfach gehabt, liegt falsch. Bei der klassischen IVF wird nämlich die Eizelle der Frau mit den Spermien des Mannes im Reagenzglas zusammengebracht: Nur das beste Spermium setzt sich durch. Nach zwei bis vier Tagen wird die befruchtete Eizelle entweder in den Uterus der Frau eingepflanzt oder, wie in meinem Fall, eingefroren.
Im April 2001 werde ich aufgetaut und in die Gebärmutter meiner Mutter gesetzt. Im Fall meiner Eltern hieß es „Aller guter Dinge sind 10“. Denn ich bin der zehnte Versuch und der erste, der klappt. Ein weiteres potentielles Geschwisterkind wird mit mir in die Gebärmutter gesetzt, doch nur ich überlebe. Es ist warm hier. Ich entwickle mich weiter, doch irgendwann bekomme ich zu wenig Nahrung. Schon in der 36. Schwangerschaftswoche muss ich geholt werden. „Ein unreifes, sogleich kräftig schreiendes Mädchen mit Wachstumsretardierung“, so werde ich im OP-Bericht beschrieben. Nach einigen Tagen im Brutkasten und im Krankenhaus werde ich entlassen, da ich trotz gegenteiliger Befürchtungen ein robustes Kerlchen bin.
Im Fall meiner Eltern hieß es „Aller guter Dinge sind 10“. Denn ich bin der zehnte Versuch und der erste, der klappt.
Ich wachse auf wie jedes andere Kind, und nach fünf Jahren bekomme ich ein Geschwisterchen, das sogar natürlich entstanden ist. Erst mit zehn Jahren erklärt mir meine Mutter, wie ich gezeugt wurde. Mein Kindergehirn glaubt, dass mein Vater also nicht mein Vater ist, was meine Mutter schnell aufklärt. Danach bleibt das Thema für einige Jahre unwichtig. Je mehr ich im Biologieunterricht lerne, desto mehr interessiert es mich und ich wundere mich, dass außerhalb meiner Familie nicht darüber gesprochen wird.
Eines Tages diskutiere ich mit Freundinnen über Adoption. Ohne nachzudenken, erkläre ich meine besondere Vergangenheit und ernte nichts als verblüffte Gesichter. Die Mädchen wissen weder, wie IVF funktioniert, noch war ihnen bewusst, ein „Retortenbaby“ zu kennen.
Bisher habe ich keinen einzigen Genossen kennengelernt. Dabei sitzt, statistisch gesehen, in jeder Südtiroler Schulklasse ein durch Reproduktionsmedizin gezeugtes Kind.
Viele wollen nach einer erfolgreichen künstlichen Befruchtung nicht mehr darüber sprechen und sagen es dem Kind nicht. Das ist für mich nur schwer nachvollziehbar, da meine Eltern immer sehr offen damit umgegangen sind.
Wir behandeln meine Zeugung mit Humor. Wenn ich etwas Dummes mache, richtet sich mein Vater oft mit den Worten „Sigsch, des Ingfriore wor koan guita Idee!“ an meine Mutter.
Bisher habe ich keinen einzigen Genossen kennengelernt. Dabei sitzt, statistisch gesehen, in jeder Südtiroler Schulklasse ein durch Reproduktionsmedizin gezeugtes Kind.
Wie immer, wenn es um Eingriffe in den natürlichen Kreislauf des Menschen geht, gibt es auch Kritik. Die Gesetze in Italien zur Kryokonservierung sind strenger geworden und es wird oft gefordert, die befruchteten Eizellen wie Kinder zu sehen. Ich musste mir schon anhören, dass künstliche Befruchtung unmoralisch sei, da man dabei die „besten“ Eizellen aussucht. Das macht die Natur übrigens auch. Hier wie dort gilt das Recht des Stärkeren. Moralisierende Kommentare machen mich wütend, und doch motivieren sie mich dazu, darüber zu sprechen. Ich bin dankbar, dass meine Eltern ein solches Durchhaltevermögen hatten, denn sonst wäre ich heute nicht hier. Wenn das Thema aufkommt, stoße ich immer noch auf viel Unwissen. Das möchte ich ändern.
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Geschätzte Frau Nora
Geschätzte Frau Nora Nicolussi Moz, die Selbstverständlichkeit Ihrer Darlegungen und Ihr Mut haben mich sehr beeindruckt; schön, dass es Sie gibt !!!
Frau Nicolussi Moz, sie sind
Frau Nicolussi Moz, sie sind eine starke, sympathische und aufgeklärte Frau. Ignorieren sie bitte die moralisierenden Kommentare, das ist nur Ignoranz. Zum Glück gibt es die Reproduktionsmedizin, ansonsten würde es eine wie Sie nicht geben.
Hallo Nora
Hallo Nora
Schreibe dich per du an, da du meine Enkelkind sein könntest. Ich wäre sehr sehr stolz als Vater/Großvater eine/n solche/n Tochter/Sohn und so eine offenen, intelligente und sympatisch und nette Enkelin zu haben. Wünsche dir alles Beste für deinen weiteren Werdegang.