“Wir haben alle Trümpfe in der Hand”
In Zeiten, in denen alles schneller zu werden scheint, schaltet ein kleines Dolomitental einen Gang zurück. Villnöß setzt auf Langsamkeit. Die kleine Eisacktaler Gemeinde zwischen Brixen und Klausen ist Südtirols erste “Slow Food Travel Destination”. Was bringt das? Sehr viel – wenn man sich darauf besinnt und das zu schätzen weiß, was schon da ist. Davon ist Martina Mantinger überzeugt. Mantinger ist Gemeindereferentin der SVP in Villnöß und sagt: “Man darf dem Tourismus nicht alles fraglos unterordnen.”
salto.bz: Frau Mantinger, wie ist Villnöß zur Slow Food Travel-Destination geworden?
Martina Mantinger: Die Idee ist von Oskar Messner ausgegangen, der in seinem Restaurant “Pitzock” schon seit vielen Jahren die Slow Food-Philosophie kocht und lebt. Der Verein “Slow Food” wurde schon vor vielen Jahren in Italien gegründet, als Gegenstück zur “Fast Food”-Kultur, und setzt sich, kurz gesagt, für das “langsame Genießen” im Gegensatz zum “schnellen Konsumieren” ein. Slow Food Travel überträgt das Konzept auch auf den Tourismusbetrieb. Der Gast ist also eingeladen, seine Urlaubsdestination kennenzulernen, sich mit dem Anbau und der Produktion von Lebensmitteln vor Ort zu beschäftigen und auch Kultur und Traditionen seiner Gastgeber zu verstehen, anstatt nur schnell irgendwo “durchzurauschen”.
Unterstützt die lokale Politik die Initiative?
Als Oskar die Idee der Gemeinde und der Tourismusgenossenschaft präsentiert hat, war schnell klar, dass Villnöß für diese Art von Tourismus prädestiniert ist. Bürgermeister Peter Pernthaler hatte dann den Einfall, das Konzept im LEADER-Programm der Eisacktaler Dolomiten vorzustellen, das die Idee auch gerne aufgegriffen hat, denn sie passt genau in die Zielsetzung der EU-Förderung: den ländlichen Raum nachhaltig stärken. Dass auch Reinhold Messner als Testimonial gewonnen werden konnte, gibt dem ganzen Projekt natürlich auch einen großen Prestigeschub. Etwas schade war, dass sich weder der Landeshauptmann noch der Wirtschaftslandesrat noch der Landwirtschafts- und Tourismuslandesrat bei der offiziellen Übergabe der Diplome haben blicken lassen. Ihre Nachhaltigkeits-Tour war wohl leider schon abgeschlossen.
Es geht darum, das bereits vorhandene Potential sichtbar zu machen – und wir brauchen Menschen, die das “Erlebnis” authentisch vermitteln
Schon 2019 hat Eurac Research im Auftrag der Gemeinde die Studie “Lebensraum- und Destinationsentwicklung in Villnöß” durchgeführt – und für das Tal folgende Vision entwickelt: “Villnöß bleibt sich treu. Seit jeher ist es zutiefst mit der Natur, dem Brauchtum und der Tradition verwurzelt, was es zu einem authentischen Lebens- und Destinationsraum macht. Infolgedessen soll Entwicklung auch in Zukunft behutsam, im Einklang mit der unberührten Natur und im Sinne der Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit gestaltet werden. Leidenschaft und Emotion sind unabdingbar, damit eine vielfältige und qualitativ hochwertige Umsetzung der Potentiale des Tales gelingen kann.” Slow Food Travel ist ganz im Sinne dieser Empfehlung. Besser spät als nie? Oder: War Villnöß damals noch nicht bereit für diesen Schritt?
Eigentlich gibt es die Ansätze dazu in unserem Tal schon länger. Villnöß ist Gründungsmitglied der “Alpinen Perlen”, die sich seit 2006 für sanft-mobilen Urlaub in den Alpen stark machen. Weiters ist im Tal das Angebot an Urlaub auf dem Bauernhof stetig gewachsen und sehr erfolgreich. Im Prinzip sind die Schwerpunkte der Slow Food Travel-Idee bei uns schon seit vielen Jahren gelebt worden, nur gab es keine Koordination, keinen Namen, kein Marketing in diese Richtung. Die Studie der Eurac hat uns einmal offiziell bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass Villnöß touristisch eigentlich nicht “hintendran”, sondern plötzlich sogar wieder “voraus” sein kann. Das Selbstbewusstsein und Wertbewusstsein, dass das Tal und seine Menschen vieles bieten können, was es andernorts nicht (mehr) gibt, muss sich in meinen Augen erst noch stärker entwickeln. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Am 28. Mai wurde die Zertifizierung “Slow Food Travel” offiziell übergeben. Ist ein langsamer, sanfter Tourismus der einzige gangbare Weg für Villnöß?
Eines müssen wir vorausschicken: So langsam und sanft ist der Tourismus in Villnöß inzwischen gar nicht mehr. Besonders in gewissen Zeiträumen übersteigt die Nachfrage deutlich das Angebot. Die ganze Tourismuswelt wandelt sich rasant und wir müssen jetzt vor allem schauen, welche Art von Gast angesprochen werden soll und entsprechende Schwerpunkte setzen.
Die Pandemie hat uns gezeigt, dass kleinstrukturierte Betriebe, so wie wir sie im Tal haben, besser durch die Krise kommen
Tatsächlich ist Villnöß in Sachen “Overtourism” kein unbeschriebenes Blatt. Beispiel Ranui-Kirchlein, das zum begehrten Fotomotiv für Gäste aus aller Welt geworden ist – was dafür gesorgt hat, dass der Landwirt, auf dessen Grundstück das Kirchlein steht, im Sommer 2019 ein Drehkreuz aufgestellt und 4 Euro an Eintrittsgeld verlangt hat. Das kann doch niemand wollen, oder?
Ja, leider sind wir vom Phänomen “Overtourism” nicht verschont geblieben: Spätestens seit Instagram und Facebook das Selbstwertgefühl vieler Reisender bestimmen, haben sich die Bilder aus unserem Tal auf der ganzen Welt verbreitet und das führt zu solchen vor einigen Jahren noch unvorstellbaren Situationen wie am Ranui-Kirchl. Dabei geht es nicht einmal so sehr um die Anzahl der Touristen, sondern um ihr oft respektloses Verhalten: einen Spot nach dem anderen abrennen, abfotografieren und abhaken, dabei noch wild parken, die Wiese zertrampeln und am Ende noch den Plastikmüll liegen lassen. Diese Art von Touristen wünscht sich niemand. Eben diesem respektlosen, schnellen Konsumieren möchte die Slow-Food-Philosophie entgegenwirken. Dabei bin überzeugt, dass die Philosophie der Vereinigung “Slow Food Travel” den Gegebenheiten unseres Tals bestens entgegenkommt.
Inwiefern?
Wie bereits vorhin erwähnt, ist schon vieles da. Es geht darum, das bereits vorhandene Potential sichtbar zu machen: die Produkte, die Natur, die Herzlichkeit der Menschen. Wenn eine Bäuerin heute noch das Wissen hat, wie man Brot backt und ihr die Gäste dabei zusehen oder sogar mithelfen dürfen, dann bekommt nicht nur das Produkt, also das Brot, einen besonderen Wert, sondern auch der Produzent. Wer selbst einmal Himbeeren gepflückt hat, weiß den Wert eines selbst gemachten Sirups mehr zu schätzen und wer sieht, wie ein Schaf geschoren wird und wie aufwändig die Wollverarbeitung funktioniert, ist vielleicht auch bereit, mehr für das Endprodukt zu bezahlen. Es werden Beziehungen aufgebaut, die Gäste erfahren etwas über die Lebensmittelproduktion und auch der kleine Produzent erhält eine Chance, im lokalen Wirtschaftskreislauf mitzuwirken. Das alles ist ohne große Infrastrukturen und ohne großen Ressourcenverbrauch möglich. Was wir aber brauchen, sind Menschen, die das “Erlebnis” authentisch vermitteln.
Die Schattenseiten des Tourismus auszugleichen kann nur gelingen, wenn alle sich gegenseitig respektieren und gemeinsam die Probleme angehen, die die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung beeinträchtigen
Ist Slow Food Travel mehr als eine Marketing-Strategie?
Ich würde sagen, Slow Food ist nicht nur eine Marketing-Strategie, sondern ein Lebensgefühl – das ist das Besondere daran. Es ist ein großer Schritt, dass die örtliche Tourismusgenossenschaft und sogar die IDM die Idee auch aufgegriffen haben und sich auf dieser Schiene profilieren wollen. Die Verantwortlichen haben erkannt, dass ganz vieles in das Konzept hineinpasst und daher entsprechend viele Akteure davon profitieren können.
So langsam und sanft ist der Tourismus in Villnöß inzwischen gar nicht mehr
Anfang 2020 diskutierte ganz Villnöß über ein jahrzehntealtes Projekt: eine Seilbahnverbindung auf die Grödner Seceda. Die Argumente für die Seilbahn waren damals, dass sie notwendig sei, um den Wintertourismus anzukurbeln und der Abwanderung aus dem Villnößtal entgegenzuwirken. Am 21. Februar 2020, kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie auch in Südtirol, hat der Gemeinderat das Projekt denkbar knapp abgelehnt. Glauben Sie, dass die Pandemie ein Umdenken gebracht hat?
Wenn die Pandemie uns eins gezeigt hat, ist es, dass kleinstrukturierte Betriebe, so wie wir sie im Tal haben, besser durch die Krise kommen. Für die Wirtschaft ist es allgemein wichtig, dass sie sich breit aufstellt und nicht nur auf einen Sektor setzt – das ist uns allen bewusst geworden. Die Bauernhöfe sind sowieso krisenresistent und sind mit ihren hochwertigen Ferienwohnungen den Bedürfnissen der Gäste in den letzten beiden Jahren mehr denn je entgegengekommen. Auch konnte man beobachten, dass viele Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe im Tal zum Glück auch noch auf einheimische Gäste gesetzt haben, sodass das Ausbleiben von internationalen Touristen sicher weniger ins Gewicht gefallen ist als anderswo. Ob es ein allgemeines Umdenken bewirkt hat, kann ich nicht beurteilen. Sicher haben einige aber in den Pandemie-Wintern weniger neidvoll nach Gröden geblickt als in anderen Jahren.
Ist das Seilbahn-Projekt inzwischen nochmals auf den Tisch gekommen?
Im Moment ist das Projekt zumindest in der Gemeindestube kein Thema mehr.
Die Talbevölkerung war damals sehr gespalten. Sind die Gräben inzwischen zugeschüttet?
Ich persönlich wurde nie mehr auf das Projekt angesprochen, weder im positiven noch im negativen Sinn. Wir alle hatten – sowohl privat als auch auf Gemeindeebene – in den letzten zwei Jahren einfach viele andere Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Welt steckt gerade in einem drastischen Wandel, der noch andauern wird und wir alle müssen uns auf neue Gegebenheiten einstellen. Ich würde sagen, die Prioritäten haben sich verschoben.
Das Selbstbewusstsein und Wertbewusstsein, dass das Tal und seine Menschen vieles bieten können, was es andernorts nicht (mehr) gibt, muss sich noch stärker entwickeln
“Die Gegebenheiten des Tals sollten in ihrer Einzigartigkeit geschätzt und bewahrt werden, denn wenn die Einheimischen dies tun, dann wüssten das auch die Urlauber zu würdigen” – diese Worte haben Sie Ende 2019 in einer Stellungnahme zur Seilbahn in der Villnößer Gemeindezeitung geschrieben. Ist das ein Rezept, das für ganz Südtirol gelten kann?
Das ist ein Rezept mit wahrlich vielen edlen Zutaten, die uns auf den richtigen Weg bringen könnten. Ich glaube, wir haben uns in Villnöß touristisch viele Jahre lang unter Wert “verkauft”, weil die Einstellung vorherrschte, man habe nicht viel zu bieten. Die jetzige Trendwende, die vor allem aus dem deutschsprachigen Raum kommt, hat ganz klar dazu geführt, dass wir alle Trümpfe in der Hand haben. Wir müssen sie nur erkennen und im richtigen Maße einsetzen.
Wie kann die Gratwanderung gelingen, dass das Land lebenswert für alle Menschen vor Ort und erlebenswert für die Gäste bleibt, die es besuchen?
Das ist die Frage, die sich wohl gerade das ganze Land bzw. der ganze Alpenraum, stellt.
Alle sollten die Möglichkeit haben, das im Leben zu tun, was sie gerne tun und auch davon leben können – das wäre natürlich der Idealzustand. Der Tourismus bringt finanziellen Wohlstand, das wird von den IDM-Verantwortlichen immer betont. Aber man darf diesem Wirtschaftszweig nicht alles fraglos unterordnen bzw. die Augen vor den Nachteilen verschließen. Und diese Schattenseiten auszugleichen kann nur gelingen, wenn alle sich gegenseitig respektieren und gemeinsam die Probleme angehen, die die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung beeinträchtigen. Dieses Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen aller ist noch nicht in allen beteiligten Institutionen genug ausgeprägt.
Ein großes Kompliment an Frau
Ein großes Kompliment an Frau Mantinger für ihre Haltung und ihren Einsatz für einen langsameren, sanfteren und verträglicheren Tourismus. Villnöss ist auf dem richtigen Weg und damit ein Vorbild.
Diese Frau hat Mut (ich ziehe
Diese Frau hat Mut (ich ziehe meinen imaginären Hut)! Bitte mehr davon!
Der Gemeindereferentin, ihrem
Der Gemeindereferentin, ihrem Bürgermeister und der Gemeindeverwaltung darf ich für diese Haltung und die klaren Ansagen nur gratulieren. Solche Projekte gehören von der Landesverwaltung unterstützt; sie sind glaubwürdige Botschafter der Nachhaltigkeit, und damit auch würdige Bannerträger für Südtirol. Zum "top down" Modell der Landesregierung ist dieser "bottom up" Ansatz die richtige Antwort. Beide Wege führen zum Ziel.