“Sucht nicht nach Schuldigen”
Zehn Tage nach dem Gletscherabbruch, bei dem elf Personen ums Leben kamen und weitere acht teils schwer verletzt wurden, bleibt die Marmolata im Gespräch. Auch dank Reinhold Messner. Am Montag hat der Villnößer Extrembergsteiger Aufnahmen veröffentlicht, die der Sterzinger Bergführer Hanspeter Eisendle laut Messner im Mai an der Marmolata gemacht hat*. Die Fotos, die Messner auf Instagram geteilt hat, zeigen einen kleinen See. Für Messner die Vorhut “der dramatischen Ereignisse” auf der Marmolata. “Durch die außergewöhnliche Hitze hat sich zunächst ein See gebildet, der dann die gesamte Eismasse nach außen gedrückt hat”, kommentiert er auf Instagram. Laut dem Trentiner Nachrichtenportal ildolomiti.it werde das von Eisendle dokumentierte und von Messner verbreitete Foto-Material auch von den Ermittlern der Staatsanwaltschaft von Trient untersucht, die feststellen sollen, wie es zu dem Gletscherabbruch kam und ob er irgendwie vorherzusehen gewesen wäre.
*Update, 13. Juli 2022, 18.30 Uhr: Wie die Nachrichtenagentur ANSA berichtet, handelt es sich bei dem von Messner verbreiteten Foto nicht um eine Aufnahme aus dem Mai 2022. Hanspeter Eisendle habe zwar von einem See im Mai auf der Marmolata berichtet, die Aufnahme aber im Juli 2009 gemacht – an einer anderen Stelle als der, wo 13 Jahre später der Gletscherabbruch stattgefunden hat.
In eine völlig andere Richtung gehen die Worte, die nun eine “Berufskollegin” von Reinhold Messner findet. Bisher hat Tamara Lunger nicht zum Marmolata-Unglück Stellung genommen. “Ich habe bewusst nicht auf Medienanfragen reagiert”, erklärt die Südtiroler Alpinistin in einem Facebook-Post, “weil auch ich meine Gedanken erst ordnen musste”.
Anfang 2020 hat die 36-jährige Skibergsteigerin ihrem Begleiter Simone Moro in Pakistan das Leben gerettet. Dabei wurde sie selbst schwer verletzt. Ein Jahr später, im Jänner 2021, verlor sie bei einer Expedition zum K2 fünf Bergkameraden. Lunger selbst hatte die Seilschaft frühzeitig verlassen, weil ihr körperliche Beschwerden zu schaffen machten. “Quel malessere mi ha salvato la vita”, gestand Lunger im salto.bz-Interview nach ihrer Rückkehr aus Nepal. Der Tod ihrer Begleiter, darunter ihr Seilkamerad Juan Pablo Mohr (“JP”), war für Lunger eine traumatische Erfahrung. “Im Nachhinein habe ich mich eine Million Mal gefragt: Warum habe ich ihn (JP, Anm.) nicht gebeten, zu bleiben? Ich fühlte mich schuldig, weil ich dachte, ich hätte hinaufgehen und ihm helfen können”, berichtete Lunger mehrere Monate nach dem Unglück im Gespräch mit dem Corriere. “Aber”, meinte sie im gleichen Atemzug, “ein Rettungsversuch dort oben wäre Selbstmord gewesen. Vielleicht musste alles so sein”. Ende 2021 machte Lunger öffentlich, dass ihr das Bergsteigen weiter schwerfalle: “Diese Tragödie (am K2, Anm.) hat mein Leben wirklich verändert und sicherlich auch mich. Vielleicht muss etwas sehr Großes und Schmerzhaftes geschehen, um es loszulassen, vielleicht braucht es nur mehr Zeit. So etwas Dramatisches hatte ich noch nie erlebt. Was passiert ist, hat mich zutiefst schockiert: Es hat mir so viel genommen, auch meine Freude, in die Berge zu gehen.”
“Ich weiß, wie schmerzhaft es ist…”
Nach Tagen der Reflexion über das, was am 3. Juli 2022 an der Marmolata passiert ist, meldet sich Tamara Lunger jetzt mit einem emotionalen Appell zu Wort: Es sei nicht richtig, jemandem die Schuld an der Tragödie geben zu wollen, denn am Ende trage jeder selbst Verantwortung für seine Entscheidungen – auch die, in die Berge zu gehen. “Ich habe gezittert, während ich diese Zeilen geschrieben habe, denn sie berühren mich sehr” gesteht Lunger.
Wörtlich schreibt sie:
“Ich liebe die Berge, auch wenn sie mich einige Male an meine körperlichen und mentalen Grenzen gebracht haben. In den Bergen habe ich verstanden, welche Werte ich in diesem Geschenk der Natur finden möchte, kompromisslos, und genau aus diesem Grund bin ich 2015 auf die Winterexpeditionen ausgewichen.” Eigenverantwortung – das sei es gewesen, was sie in den Bergen gesucht habe, “die Verantwortung tragen für jeden Schritt, den ich mache und jede Entscheidung, die ich treffe”.
“Es tut mir sehr Leid für die Todesopfer der Marmolata”, fährt Lunger fort. “Aber mein Herz schmerzt auch, weil es immer einen Schuldigen geben muss. Anschuldigungen, Anzeigen, Wutausbrüche... Ich weiß, wie schmerzhaft es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren, aber nie wäre mir in den Sinn gekommen, dafür einen Schuldigen zu suchen. Sogar bei Todesfällen auf 8.000 Meter, dort wo man unter anderem auch 10.000 Dollar für eine Genehmigung bezahlt, gibt es weder eine Sperrung des Berges noch einen Schuldigen – WEIL ES UNSERE FREIE ENTSCHEIDUNG war, dort hinauf zu gehen.”
Sie wünsche sich, dass wir in dieser Zeit, “in der wir immer mehr dazu neigen, für alles einen Schuldigen finden zu wollen (auch wenn es keinen gibt), versuchen, das Schicksal zu akzeptieren und uns damit auch selbst mehr Ruhe in unserem eigenen Leben gönnen. Ich glaube, der Schmerz reicht schon aus. Wir brauchen nicht noch mehr Negativität, die uns belastet, denn leider wird nichts und niemand diese Personen ins Leben zurück holen.”
Ihre Stellungnahme beendet die Alpinistin mit nachdenklichen Worten: “Als Bergsteigerin kann ich euch sagen: Wir hier in Europa dürfen dankbar sein. Dankbar für das Privileg und die Möglichkeit, frei entscheiden zu können, wann und wo wir in die Berge gehen, denn das ist leider nicht überall so.”
Danke für diese ehrlichen und
Danke für diese ehrlichen und tiefgehenden Worte: Eigenverantwortung und die freie Entscheidung - wer in die Berge geht, trifft eine Entscheidung und ist auch dafür verantwortlich. Respekt vor den Bergen sowie stille Trauer und Anteilnahme, diese Lehre ziehe ich aus dieser Tragödie.
Den Bergsteigern oder
Den Bergsteigern oder Bergführern unverantwortliches Handeln vorzuwerfen ist müßig. Dies ist eine moderne Unart des Gesetzgebers und der Juristerei. Dass am Berg, auch an an sich "gemütlichen" Routen wie den Normalweg auf die Marmolada, objektive Gefahren lauern, gehört leider dazu. Jedes Jahr gibt es auch Tote am Hirzer und unzählige Tote im Straßenverkehr. Zumindest am Berg soll nicht die perverse Form der Arbeitssicherheit Anwendung finden. Der Berg muss Freiraum mit all seinen Konsequenzen bleiben.