Sind es 300.000 ? Oder sind es, wie Italiens Innenminister Angelino behauptet, bis zu 600.000 ? Die Zahl der Migranten, die in Libyen darauf warten, das Mittelmeer zu überqueren, bleibt ein ungewisser Schätzwert. Eines steht unumstößlich fest: es sind Zehntausende. Über 5000 sind allein in den letzten drei Tagen in Sizilien gelandet. Am Freitag setzte die Marinefregatte Zeffiro in Trapani 410 vorwiegend syrische Flüchtlinge an Land. Weitere 400 werden erwartet. 4500 wurden vorher nach Augusta, Catania, Pozzallo, Messina und Porto Empedocle gebracht, wo unter großen Schwierigkeiten immer neue Zeltstädte entstehen. Die offiziellen Statistiken des Innenministeriums müssen fast stündlich nach oben korrigiert werden. Waren es im gleichen Zeitraum des Vorjahres 1500, so hat sich die Zahl 2014 verzehnfacht. Seit Beginn der Operation Mare Nostrum wurden über 20.000 Flüchtlinge gerettet. Jetzt schlägt Italien Alarm. "Wir blicken sechs problematischen Monaten entgegen", fürchtet Innenminister Alfano mit Blick auf den nahenden Sommerbeginn: "Sind es am Jahresende ein halbe Million?" Das Ministerium hat die betroffenen Gemeinden aufgefordert, neue Lager zu errichten, doch denen fehlen die nötigen Mittel. Nun sollen 140 Millionen Eurofür die Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden. Der anschwellende Flüchtligsstrom ist auf zwei unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. In Libyen ist die ohnedies prekäre staatliche Ordnung zusammegebrochen, es gibt keine Kontrollsysteme mehr. Bewaffnete Milizen haben die Migranten als willkommene Einnahmequelle entdeckt und organisieren den Menschenhandel. Nach Informationen des italienischen Geheimdienstes sind die Grenzen zum Niger, Tschad und Mali unbewacht. Zynisch nutzen die organisierten Schleuser das italienische Hilfsprogramm zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge für ihre Zwecke. Die Operation Mare nostrum, an der sich Schiffe der Marine und der Küstenwache beteiligen, war von Premier Enrico Letta nach dem Tod von 368 Migranten vor der Küste von Lampedusa beschlossen worden. Die Patrouillierung des südlichen Mittelmeers, die 9 Millionen Euro im Monat kostet, machen sich die Menschenhändler zunutze. Alle Flüchtlingsschiffe werden mit einem Satellitentelefon ausgerüstet, auf dem die Nummer der Küstenwache gespeichert ist. Nach wenigen Stunden Überfahrt setzten die Flüchtlinge einen Notruf ab. Die Küstenwache ortet die Position des Schiffes und kommt den Migranten zu Hilfe. Allein am Mittwoch wurden 16 solche Notrufe abgesetzt. "Dank mare nostrum werden unsere Marineschiffe zu kostenlosen und bequemen Fähren für tausende Migranten" erregt sich das Berlusconi-Tagblatt Il Giornale.
Die EU-Agentur Frontex, die nach der Katastrophe von Lampedusa eine Überwachung des südlichen Mittelmeeres angekündigt hatte, habe ihr Versprechen nicht gehalten, so Alfano, der einmal mehr Brüssel die Rute ins Fenster stellt: "Die Einwanderung ist nicht unser Problem, sondern ein europäisches", so der Innenminister unter Hinweis auf die Tatsache, daß die meisten Migranten nicht in Italien bleiben wollen, sondern andere EU-Staaten anpeilen. "Europa kann nicht wegschauen", hatte der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso im Oktober in Lampedusa betont. Doch genau das tut Europa. Jetzt rächt sich die Kurzsichtigkeit, mit der Libyen nach dem Sturz Ghaddafis alleine gelassen wurde. Bizarr genug, daß Europa jetzt Truppen nach Zentralafrika entsendet und die explosive Zeitbombe vor der eigenen Tür ignoriert. Der regelrechte Flüchtlingsboom hat die Preise für die Überfahrt von 1000 auf 300 Euro pro Person sinken lassen. Was derzeit in Sizilien passiert, läßt auch Italiens Medien kalt. Noch werden die Dimensionen des Problems sträflich unterschätzt. Die Zahl von 90 Migranten pro Stunde könnte sich freilich in kurzer Zeit verdoppeln, doch eine Strategie ist nicht in Sicht. Denn kurz vor der EU-Wahl ist die Immigration ein zu heißes Thema, das leicht zum Bumerang gerät.