Kennen Sie die Geschichte vom Hirtenjungen und dem Wolf? Ja, genau die, wo der Bub aus Langeweile so lange grundlos vor dem Wolf warnt, bis ihm keiner mehr glaubt, als der Wolf dann wirklich aufkreuzt. Und alle Schafe plus das Buberl frisst. Ja, das gute Buberl auch, das merken wir uns an dieser Stelle.
Dieser Tage musste ich oft an diese Geschichte denken, weil sie uns, wenn auch in stark veränderter Form, gerade widerfährt. Wir haben da einen Wolf, der vor der Tür steht, und wir haben einen Hirtenjungen, der seinen Schaflen weismachen will, dass der Wolf gar kein solcher ist. Der Junge, nennen wir ihn Toni, ich weiß nicht, was genau mit ihm los ist. Vielleicht ist er schrecklich naiv, vielleicht ist er ein herzensguter Optimist, vielleicht verspricht er sich auch etwas davon, dem Wolf so hartnäckig den Schafspelz aufzubinden. Vielleicht braucht er auch einfach nur eine neue Brille.
Jedenfalls behauptet er in seiner Schafspostille nun schon zum wiederholten Male,
dass der Wolf ganz harmlos ist. Das ist bloß ein Hund. Der will nur spielen. Macht’s ruhig heitscha heitscha, der tut nix.
Die Schafe sind, verständlicherweise, skeptisch. Denn der Hund sieht aus wie ein Wolf (Flamme der Neofaschisten im Parteisymbol), klingt wie ein Wolf („Dio, patria, famiglia!“), ist mit anderen Wölfen dicke und findet toll, was sie so an Wölfischem tun (die Menschenrechtsverletzungen von Viktor Orban). Außerdem sagen Experten weltweit:
Obacht, liebe Schafe, das ist ein Wolf.
Gerade bei den Älteren müssten da schreckliche Erinnerungen wach werden, wenn nicht aus erster Hand, so doch von den Eltern vererbt.
“ I wo“, sagt der Hirten-Toni. Dieses Hundl will nur aufräumen. Klar Schiff machen. Das kann gar nicht beißen, weil sonst kriegt’s gleich einen Klaps von der EU und keine Leckerlis aus Brüssel.
Außerdem hat sich das Hundl aus eigener Kraft hochgearbeitet, schon beeindruckend, und ist alleinerziehend. Hat es zwar nicht und ist es zwar nicht, aber an dieser Stelle passt das halt gut ins Narrativ. So eine kleine, starke Frau (!!!), die kann ja gar nicht gefährlich sein. Lasst sie mal arbeiten! Die will ja bloß gut aufpassen auf uns!
Gerade bei den Älteren müssten da schreckliche Erinnerungen wach werden, wenn nicht aus erster Hand, so doch von den Eltern vererbt.
Dass das Hundl bzw. der Wolf
bereits angekündigt hat, auf die Sonderrechte, die den Schaflen einen besonderen Schutz garantieren, einen dicken Haufen pflanzen zu wollen, scheint den Toni nicht zu stören, obwohl auch er zu diesen Schaflen gehört. Man dürfe das Hundl nicht „brüskieren“, indem man ihm die Tür vor der Nase zuschlage, wie das die SVP in Rom doch hoffentlich nicht vorhabe.
Ja ja, die guten Manieren. Und gewiss auch die christliche Grundhaltung: Offenbar hat sich jede*r eine zweite Chance verdient, auch jene, die mit Faschisten flirten, und offenbar hält man gerne die zweite Wange hin, wenn die andere auch schon mal arg zerkratzt wurde. Christlich wäre aber auch, sich schützend vor die Schwachen zu stellen, vor die, denen jetzt schon die Beschneidung ihrer Rechte angedroht wird. Aber ob dann noch was rausschaut für die „Die will ja bloß spielen“-Fraktion? Wenn sie dann zubeißt, was dann, lieber Toni?
Offenbar hat sich jede*r eine zweite Chance verdient, auch jene, die mit Faschisten flirten, und offenbar hält man gerne die zweite Wange hin, wenn die andere auch schon mal arg zerkratzt wurde.
„Hic patriae fines siste signa. Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“, so kann man noch immer in Bozen lesen. Wenn wir jetzt angesichts unserer Geschichte und den Blick auf Nachbarländer nicht das Rückgrat und den Anstand aufbringen, Meloni die rote Karte zu zeigen, dann hatten die Faschisten mit ihrem Vorwurf der Barbarei möglicherweise gar nicht so unrecht.