Richtung Heimat
Wer zu lange von nahe auf etwas schaut, riskiert, kurzsichtig zu werden. Aus der Ferne fällt es dann oft leichter, das große Ganze besser in den Blick zu fassen. Das ist Andreas Pfeifer mit seiner aktuellen Südtirol-Doku gelungen. Der gebürtige Bozner Journalist lebt seit Langem nicht mehr in Südtirol. Nach Stationen in Washington, Rom und Wien leitet der 57-Jährige seit 1. November 2021 das ORF-Büro in Berlin. Seine Heimat aber lässt ihn nicht los. Zum 100. Jahrestag des Marsches auf Rom und der Machtergreifung der Faschisten in Italien hat der ORF vorigen Donnerstag (27. Oktober) in der Reihe “Menschen und Mächte” Pfeifers Reportage “Südtirol – Heimat auf Italienisch” (online verfügbar noch bis Donnerstag, 3. November) ausgestrahlt. Darin zeichnet Andreas Pfeifer, der auch den Part als Sprecher übernimmt, die Geschichte Südtirols seit 1922 nach, fragt sich, ob sich das leidgeprüfte Land und seine Menschen hundert Jahre nach dem Aufstieg Mussolinis – Stichwort Meloni, Salvini, Berlusconi – Sorgen machen muss. Und lässt vor allem viele Menschen zu Wort kommen, deren Stimmen nicht gerne gehört und so manches Mal genauso gerne überhört werden. So entsteht ein detailliertes Bild vom Südtirol 2022, in dem die Spuren der konfliktreichen Vergangenheit genauso Platz finden wie der zähe Wandel hin zu einem in jeglicher Hinsicht modernen Land.
Jahrzehnte an Konflikten
Komplex ist nicht nur das Heute in Südtirol. Sondern auch das Gestern. Da ist die Entnationalisierungspolitik des faschistischen Regimes und eines Duce, der die “heilige Brennergrenze” mit Zähnen und Klauen verteidigt und aus Rom die Devise ausgibt: “Wenn die Deutschen verprügelt und zerstampft werden müssen, um Vernunft anzunehmen, wohlan, wir sind bereit!” Da ist der Widerstand, den die deutschsprachigen Südtiroler durch ihren Willen, Sprache, Kultur und Tradition zu bewahren, an den Tag legen. Da ist die Industrialisierung, die forcierte Zuwanderung aus italienischen Provinzen und 1939 der Pakt zwischen Mussolini und Hitler, der das Schicksal der Südtiroler besiegelt. Die Option spaltet Gesellschaft, Dörfer, Familien – und bleibt ein Kapitel in der Geschichte des Landes, das “lange überblättert” wird, da es “nicht zum Opferstatus einer bedrohten Minderheit” passte, wie Pfeifer anmerkt.
Die Konflikte sind mit dem Zweiten Weltkrieg nicht zu Ende. Die pragmatische Forderung nach mehr Autonomie im Staat Italien, vertreten von Silvius Magnago, wird von radikalen Kräften nicht akzeptiert. Statt auf Diplomatie setzen Gruppen wie der Befreiungsausschuss Südtirol auf Gewalt. Österreich entpuppt sich als “sicheres Hinterland”, aus dem materielle und logistische Hilfe für die Sprengstoffattentate kommt. “Ohne Österreich hätte es den Südtirol-Terrorismus in dieser Art und Weise wahrscheinlich nicht gegeben”, konstatiert der Historiker und Geheimdienstexperte Thomas Riegler. Trotz Todesopfern auf beiden Seiten ringen Politiker aus Südtirol, Italien und Österreich weiter um eine zufrieden stellende Lösung. Die wird 1992 mit der Streitbeilegung zwischen Österreich und Italien vor der UNO besiegelt. Selbstverständlich waren der erfolgreiche Abschluss der jahrzehntelangen Fehde sowie die daraus geborene international verankerte Südtiroler Autonomie nicht.
Wie viel Wandel – und welchen?
“Dreißig Jahre später wird die weltweit mustergültige Aussöhnung gefeiert”, schwenkt Pfeifer auf die Gegenwart über und zeigt Bilder der Feierlichkeiten zu 30 Jahre Streitbeilegung am 11. Juni 2022 in Bozen – um dann auf den Wahlsieg der Postfaschistin Giorgia Meloni bei den Parlamentswahlen am 25. September zu sprechen zu kommen. Akute Sorgen, von der Vergangenheit eingeholt zu werden, seien nicht angebracht, sagen Pfeifers Gesprächspartnerinnen und -partner*. Sehr wohl aber Wachsamkeit und Weitblick. “Der wichtigste Schutz ist, wenn sich die Bevölkerung mit dieser Autonomie identifizieren kann”, meint der Politologe Günther Pallaver. Und es brauche kreative Lösungen, um diese Autonomie an die sich rasch ändernden Zeiten anzupassen. Auf Altem beharren und es verteidigen, lautet hingegen die Losung des ehemaligen Schützenbund-Kommandanten Jürgen Wirth Anderlan. Er rechnet damit, dass Südtirol aufgrund der Globalisierung “langsam verschwinden”, der “stolze Tiroler Adler” von einem “rosaroten Kaninchen mit Regenbogenfarbe in der Hand” abgelöst wird.
Im diesem letzten Drittel der Reportage wird klar: Pfeifer hat Wert darauf gelegt, in alle Ecken zu leuchten, zu zeigen, wie Südtirol “von der Vielstimmigkeit der Gegenwart eingeholt” wird, wie er selbst bilanziert. Die Ethnologin Elsbeth Wallnöfer mahnt mit Blick auf die Schützen, bei denen die Tracht zur politischen Waffe werde, “um sich nicht nur abzugrenzen, sondern vor allem um andere auszugrenzen”. Der ehemalige Bozner Casapound-Gemeinderat Maurizio Puglisi Ghizzi kann seine Sicht auf die Dinge – “il fascismo non è Mussolini dal poggiolo ma è un modo di governare una nazione, uno stato; un conto è l’uomo, un conto è il pensiero” – darlegen. Nicht ohne Einordnung durch den Sprecher. Die zunehmende kulturelle Vielfalt kommt ebenso zur Sprache wie der Tourismus – Segen und Fluch zugleich. Den Gästen selbst “bleibt mancher Wandel verborgen”, sagt Pfeifer – und meint die “Chataffäre beinahe österreichischen Ausmaßes”, die die seit 1948 ununterbrochen regierende SVP seit dem heurigen Frühjahr heimsucht und die, so Pfeifer, offenlege, wie “der Zusammenhalt der Sammelbewegung von trickreichen Lobbyisten unterwandert wird, die sich verhalten wie die Maden im Speck”.
Alles ganz normal?
Vom 0815-Urlauber unbemerkt werde inzwischen auch “gewagt, die Meinungsmacht der Dolomiten und ihrer rätselhaften Verlagsführung zu hinterfragen”. Reinhold Messner wirft dem Tagblatt der Südtiroler vor, Streitigkeiten zu züchten, den Landeshauptmann zu bestimmen und ihn absetzen zu wollen. Dolomiten-Chefredakteur Toni Ebner darf kontern: “Das ist ein haltloser Vorwurf. Wir sind eine ganz normale Tageszeitung. (…) Wir machen täglich sehr gute journalistische Arbeit, wir sind ausgewogen, wir versuchen alles aufzugreifen. Aber wir sind auch bereit – und das ist unsere Aufgabe als Journalisten –, Sachen, die unzulänglich sind, die nicht funktionieren, die falsch laufen, aufzudecken.”
Manchmal ist die Schönheit Südtirols kaum zu ertragen.
- Andreas Pfeifer
Nicht eine Heimat, sondern viele Facetten davon macht Andreas Pfeifer in seiner Doku “Südtirol – Heimat auf Italienisch” sichtbar. Der Titel lehnt sich übrigens an Francesca Melandris Erfolgsroman Eva dorme an, in dem die Protagonistin keinen Ausdruck für “Heimat” im Italienischen zu finden vermag: L’Alto Adige è la mia Heimat; l’Alto Adige è in Italia; ergo, l’Italia è il mio… Come si dice Heimat in italiano? È una parola che con l’Italia non c’entra niente, sa troppo di pane al cumino di Stube tiepida quando fa freddo, di Adventskalender. Francesca Melandri, selbst Römerin, schwärmt: “In Sudtirolo si vive tanto bene.” Ihre Einschätzung von außen: “Potrebbero (die Südtiroler, Anm.) permettersi di essere più interessati alle grandi correnti nell’Oceano del presente e non solo alla propria piccola isoletta.”
*Reinhold Messner, Barbara Plagg, Lucio Giudiceandrea, Jürgen Wirth Anderlan, Francesca Melandri, Elsbeth Wallnöfer, Günther Pallaver, Hans Heiss, Karl Seebacher, Toni Ebner, Hartwig Mumelter, Martin Alber, Zeno Braitenberg, Umberto Carrescia, Thomas Riegler, Maurizio Puglisi Ghizzi, Hannes Obermair, Mohammed Cardo Maleki, Gregor Marini
Anerkennung und DANK Herrn
Anerkennung und DANK Herrn Pfeifer und dem ORF!
Bleibt zu ergänzen, dass Dank der drei Landessprachen de, it, ladinisch (nicht en), unser Land wohl EU-tauglich ist, zusammen mit weiteren mehrsprachigen Regionen Europas.
Den Südtiroler-Innen, den Altoatesines welche meinen wir sind "zu klein" um in einem europäischen Gefüge ernst genommen zu werden, mögen sich im Großherzogtum Luxemburg umschauen - um dann mehr dafür zu werben das eine EU der REGIONEN wohl zukunftsfähiger sein könnte als das derzeit bestimmende NATIONENGEHABE!
Trotz der
Trotz der "Unbedenklichkeitserklärung" die ich aus diesem Artikel herauslese, bin ich gespannt, was die Regierung Meloni für Südtirol bringen wird, ebenso wie sich diese für Italien auswirkt und wie das Verhältnis zur EU wird. Es bliebe zu wünschen, dass (ausgerechnet!) diese Regierung für eine ausreichende Rechtsstaatlichkeit sorgen wird.
Mit ihrer absurden Behauptung
Mit ihrer absurden Behauptung, dass Tracht Ausgrenzung bedeutet, beleidigt Frau Wallnöfer nicht nur alle Schützen und Marketenderinnen, sondern auch alle Musikanten und Musikantinnen, alle Volkstänzer, Schuhplattler, Bauern und Bäuerinnen sowie alle anderen, die vor allem an Feiertagen gerne die Tracht tragen. Jeder darf Tracht tragen, da wird niemand ausgegrenzt. Solche unsinnige Beauptungen schüren nur Hass.
Antwort auf Mit ihrer absurden Behauptung von Hartmuth Staffler
Sie machen es sich zu einfach
Sie machen es sich zu einfach! Horchen Sie Frau Wallnöfer zu: Film, ca. Min. 35!
... in den anderen
... in den anderen altbairischen Regionen dafür, - kein Problem ...
Wenn ich richtig verstanden
Wenn ich richtig verstanden habe: Tracht ist gefährlich, Meloni nicht. Auch eine Sichtweise (erübrigt sich eigentlich jeder Kommentar).
Frau Wallnöfer verstehe ich
Frau Wallnöfer verstehe ich Sie richtig, sollten Menschen in Tracht nicht zu ihren Meinungen stehen, oder sie ganz einfach nicht öffentlich kundtun ?
Mittlerweile gibt es ja Menschen aus verschiedenen Gegenden der Welt die hier in Europa leben. Viele von denen kleiden sich in den ihnen vertrauten
Gewändern ihrer Herkunftsländern.
Laut Ihrem Verständniss sollten sich diese Menschen bei ihren gemeinsamenTreffen auch nicht zu Ihren Themen
und Zukunftsvisionen äußern.
Wären diese Gewänder dann auch eine politische Waffe die ihre Täger eingrenzt beziehnugsweise die Nichtträger ausgrenzt ?
Selbst die Schwarzhemden
Selbst die Schwarzhemden haben ihre "Kluft".
Ein Ethnologe sollte eigentlich wissen, dass sich Gruppen auch über gemeinsame Kleidungsmerkmale definieren, sei es ein Harley-Davidson-Club oder die Pfadfinder. Es funktioniert auch mit Schwarzhemden und römischem Gruß.
"Objektivität" wird auch durch die Auswahl an Gesprächspartnern vorgetäuscht, die nicht wirklich repräsentativ für Südtirol ist.