Ocean viking
Foto: Anthony Jean/SOS Mediterranee
Politik | Flüchtlingsproblem

Melonis Traum von Souveränität

Giorgia Meloni versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen - zu einem souveränen Staatsgebilde, das es seit Gründung der EU nicht mehr gibt.

In der Kraftprobe um die Schiffsflüchtlinge auf Sizlien hat Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni eine deutliche Niederlage erlitten. Nach der Zusage von Präsident Emmanuel Macron, die Migranten des französischen Rettungsschiffs Ocean Viking im Hafen von Toulon aufzunehmen, mussten Meloni und ihr Innenminister Matteo Piantedosi nachgeben und die übrigen Migranten in Catania und Reggio Calabria an Land gehen lassen. Die Gesundheitsbehörden hatten den Zustand der 243 Personen an Bord der Geo Barents und der letzten 35 auf der Humanity als kritisch bezeichnet. Viele der Bootsflüchtlinge hätten zuvor in Libyen Miisshandlungen, sexuelle Gewalt und Folter erlebt.
Drei Männer waren bereits kurz nach Ankunft des Schiffes ins Meer gesprungen. Mehrere NGOs sprachen von "nationalistischer Propaganda."   Der italienische Konteradmiral Vittorio Alessandro - 31 Jahre im Dienst der guardia costiera - erklärte in einem Rai-Interview, es gebe keine internationale Regel, die Seerettung einschränke oder untersage: "La prima regola è salvare la gente in mare e portarla nel primo porto sicuro.

 

Das Tagblatt La Stampa wertete Melonis Kraftprobe als "sceneggiata vergognosa." Für die Entscheidung war letztlich offenbar das Gutachten der Mediziner ausschlaggebend, nach dem ein hohes Krätze-Risiko bestanden habe und der Gesundheitszustand etlicher Migranten bedrohlich gewesen sei.  Lega-Chef Matteo Salvini, der  einmal mehr Streit mit der EU gesucht hatte, sah Grund zur Genugtuung: "La Francia apre il porto alla Ocean Viking. Va bene cosi. L´aria è cambiata. Ora noi difenderemo i nostri confini." Nach Indiskretionen fiel die französische Entscheidung beim Gipfel in Sharm el-Sheik in einem Gespräch zwischen Meloni und Macron. Innenminister Matteo Plantedosi zeigte sich zurückhaltend: "Non ho motivo nè di essere soddisfatto nè insoddisfatto. Quello che mi premeva è affermare il principio giuridico che abbiamo sollevato in Europa, cioè la responsabilità dei paesi per le loro ONG. Sotto questo profilo, domani sarà davvero un'altro giorno."

Aber es gibt zweifellos auch ganz andere Gesichtspunkte, unter denen man die Zukunft des Migrationsproblems in Italien beurteilen kann und über die nur selten gesprochen wird: auf der Halbinsel sinkt die Geburtenrate seit Jahren dramatisch. 1946 hatte das vom Krieg verwüstete Italien noch die höchste Geburtenrate Europas - 200.000 mehr als Frankreich und 300.000 mehr als Deutschland. Auch 30 Jahre später führte Italien die europäische Bevölkerungsstatistik an. 2020 verbuchte das Land mit minus 60 Prozent einen neuen Negativrekord. Der Präsident des italienischen Statistik-Instituts, Carlo Blangiardo warnt: "La rotta della natalità si sta invertendo drasticamente. 2021 è scesa per la prima volta sotto la soglia dei 400.000. Nel 2050 l'Italia avrà 5 milioni di abitanti di meno". 

Der hoffnungslos antiquierte Begriff der sovranità, der stark an vergangene Jahrhunderte erinnert und mit dem Normalbürger wenig anfangen können, ist Melonis neues Zauberwort

Ein beträchtlicher Teil der Altenpfleger sind bereits jetzt Ausländer/innen. Zum dramatischen Geburtenrückgang kommt eine weitere bedrohliche Entwicklung: jedes Jahr verlassen nach Istat-Schätzungen bis zu 20.000 junge Italiener die Halbinsel in Richtung EU-Staaten. Der Grossteil davon sind Akademiker, die dort mit offenen Armen empfangen werden. Ein Besuch in London, Berlin oder Paris genügt, um festzustellen, wie viele Italiener mittlerweile dort leben und arbeiten. Über diese Form der Auswanderung wird in Italien beharrlich geschwiegen, weil sie alles andere ist als eine Werbung für das Land. Es ist eine Strategie Melonis und Salvinis, vieles von dem, was in Italien nicht oder schlecht funktioniert, dem Ausland in die Schuhe zu schieben: mal sind die Migranten Schuld, mal ist es Brüssel, das Roms Souveränität nicht respektiert.

Der hoffnungslos antiquierte Begriff der sovranità, der stark an vergangene Jahrhunderte erinnert und mit dem Normalbürger wenig anfangen können, ist Melonis neues Zauberwort. Und ihr Traum ist es, das Rad der Geschichte zurückzudrehen ins Zeitalter der Nationalstaaten  und ihrer Hoheits- und Souveränitätsrituale, die alle Staatsbürger von Cortina bis Catanzaro in einem gemeinsamen Nationalgefühl vereinen will. Darin liegt ihr eigentlicher Anachronismus.

 

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Am Pere Do., 10.11.2022 - 18:30

Antwort auf von Ceterum Censeo

Sehr richtig, mit Hilfe der SVP.
Ich habe zwei noch nicht ganz erwachsene Kinder, beide sprechen glücklicherweise mehrere Sprachen und werden mit Beginn ihres Universitätsstudiums Italien definitiv verlassen. Nicht nur wegen Rom, auch Südtirol bietet keine Perspektiven. Ich bekräftige sie in diesem Entschluss.

Do., 10.11.2022 - 18:30 Permalink
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Karl Gudauner Do., 10.11.2022 - 11:42

Die Forderung nach einer abgestimmten europäischen Migrationspolitik ist bereits von den vorhergehenden Regierungen gestellt worden. Allerdings war das Anliegen stets defensiv ausgerichtet (Verteidigung der Grenzen) und die Appelle beschränkten sich auf die Symptombekämpfung. Es fehlt eine Gesamtstrategie, die bei der eigentlichen Problematik ansetzt: dem Mangel an Lebenschancen in den Herkunftsländern der Migrant*innen. Dieser beruht auf der Ausbeutung dieser Länder durch Konzerne und Staaten aus allen Kontinenten sowie auf Unfähigkeit und Korruption der eigenen Eliten. Was die Regierung Meloni liefert ist die Fortsetzung der populistischen Erfolgsstrategie der politischen Koalition. Die Spiegelfechtereien dienen vor allem einem Zweck: Sie halten die Stammwähler*innen bei Laune und treffen allgemein den Zeitgeist des "Wir zuerst". Der Kampf um die Vorherrschaft in der politischen Agenda findet vor allem in den Medien statt. Gegen das Trommelfeuer der Desinformation kommen Vernunftargumente und Rechtsstaatlichkeit nicht zur Geltung. Von der Opposition wird diese Tatsache und die dauerhafte Wirkung auf die öffentliche Meinungsbildung unterschätzt. Dass sie immer wieder sehr stereotyp und reflexartig auf die Souveränitätsvorstöße der Regierungskoalition reagiert, spielt dieser in die Karten. Das nationale Bewusstsein ist in Italien in der Wirtschaftswelt und im allgemeinen Lebensgefühl ein bestimmendes positives Identitätselement. In der Wahrnehmung der politischen Auseinandersetzung erweist sich die Verteidigung der nationalen Identität in Zeiten großer Unsicherheiten und Ängste als griffiger und unmittelbarer gegenüber den Postulaten der Rechtstaatlichkeit und der Verantwortungsethik.

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Katharina Hersel Do., 10.11.2022 - 17:05

Seit 2016 gibt es deshalb keinen Fortschritt bei der geplanten Reform der sogenannten Dublin-Regeln. Sie scheitert bisher am geplanten Krisenmechanismus, wonach die Erstaufnahmeländer - Griechenland, Italien, Spanien - Flüchtlinge abgeben können, wenn sie übermäßig durch Neuankünfte belastet werden. Aufgenommen werden müssten diese Menschen dann nach einem Verteilungsschlüssel von allen anderen EU-Staaten. Vor allem Polen und Ungarn, nach dem Regierungswechsel auch Österreich, lehnen diesen Mechanismus kategorisch ab. Statt sich bei Orban anzubiedern sollte sich Meloni dafür einsetzen , dass auch Polen und Ungarn unterschreiben.

Do., 10.11.2022 - 17:05 Permalink
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Stefan S Fr., 18.11.2022 - 18:54

Antwort auf von Katharina Hersel

"Statt sich bei Orban anzubiedern"
Das beruht wohl mehr auf gemeinsamen Interesse da braucht es keinen Bückling.
https://www.zeit.de/2022/47/roberto-saviano-giorgia-meloni-italien-migr…
Diesen Punkt seiner Einschätzung von Saviano halte ich allerdings für unrealistisch da wirtschaftlich viel zu schwach
-> "Visegrád-Staaten werden (des politischen Bündnisses von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn). Es ist das Ziel dieses Projekts, die Achse Frankreich-Deutschland zu zerbrechen."
Fakt ist, es ziehen dunkle Wolken am Mittelmeer auf aber gegen D wird Sie keine negative Stimmung national vorantreiben können das würden Ihr die Touristiker nicht verzeihen.
Und Süssholzraspeln in Brüssel ist auch klar sonst bleibt der Milliarden Fördertopf am Brenner hängen.

Fr., 18.11.2022 - 18:54 Permalink
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Dietmar Nußbaumer Do., 10.11.2022 - 20:39

Die Gehälter für Staatsangestellte sind mager (ist der "tollen" politischen Führung der vergangenen Jahre geschuldet) und die niedrige Geburtenrate wird durch Migration "kompensiert". Wer hat da wirklich noch Lust in diesem Staat zu leben.

Do., 10.11.2022 - 20:39 Permalink