Es ist Weihnachtsfeier im Kindergarten: Die Kinder sitzen artig auf ihren kleinen Stühlchen im Halbkreis um den Weihnachtsbaum, die Erzieherin spielt Gitarre, es wird gesungen. Ein Kind hält es nicht auf dem Stuhl, es springt immer wieder auf, es will tanzen, es juchzt, als es seine Mama und den kleinen Bruder entdeckt. Dieses Kind ist mein Kind. Weil seine Chromosomen ein ganz klein wenig anders sind, als die von den anderen Kindern, fallen ihm viele Dinge schwer, die für andere leicht sind. Sprechen, zum Beispiel, Handlungsabläufe einhalten, oder eben Ruhe geben, wenn es angebracht wäre. Also zappelt und lacht er, haut anderen Kindern anerkennend auf den Rücken, bis ihn die Erzieherinnen aus der Reihe in ihre Mitte nehmen, damit die sorgsam geplante Feier ungestört weiterlaufen kann. Er lächelt, ich lächle. Wir sind es mittlerweile gewohnt, aufzufallen. In den Gesichtern der anderen Eltern lese ich Wohlwollen, Belustigung, Neugier. Vereinzelt aber auch Befremden. Was man nicht kennt, das fürchtet man, und die Bereitschaft, Fremdes kennenzulernen, sie ist unter den Südtiroler*innen, wenn es nicht gerade um Urlaub in der Karibik geht, von überschaubarer Ausprägung.
Was man nicht kennt, das fürchtet man, und die Bereitschaft, Fremdes kennenzulernen, sie ist unter den Südtiroler*innen, wenn es nicht gerade um Urlaub in der Karibik geht, von überschaubarer Ausprägung.
Es ist alles ganz wunderbar, solange es keine Schwierigkeiten gibt: Beeinträchtigte Kinder werden gern als „Sonnenschein“ bezeichnet, als „Frechdachse“, man glaubt, man tue ihnen einen Gefallen, wenn man sie wie ein Maskottchen behandelt, das für die gute Laune zuständig ist. Schnell ist es aber vorbei mit der Toleranz, wenn der „Sonnenschein“ mal nicht so gut drauf ist oder sogar aggressiv wird. Ebenso häufig werden Beeinträchtigte als Anschauungsmaterial, als Übungspuppe für Nicht-Beeinträchtigte missbraucht: „Die Kinder können so viel lernen von ihm!“. Dabei ist Inklusion kein Trainingsplatz für die soft skills der „Normalen“, mit denen sie später in der Arbeitswelt punkten können. Mein Kind muss euch nichts beibringen, es muss euch nicht aufheitern, es muss eigentlich gar nichts tun, um seine Beeinträchtigung wettzumachen. Es ist genauso wenig in der Bringschuld wie eure Kinder, die auch nichts Besonderes leisten müssen sollten, um akzeptiert zu werden. Es ist in erster Linie ein Kind, das ein gottverdammtes Recht darauf hat, ein Kinderleben zu führen. Und dazu gehört ein Platz in der Mitte der Gesellschaft, und nicht, allein tanzend, an ihrem Rande.
Mein Kind muss euch nichts beibringen, es muss euch nicht aufheitern, es muss eigentlich gar nichts tun, um seine Beeinträchtigung wettzumachen.
In Österreich gab es zuletzt Verwunderung, als eine Gruppe von Aktivisten das Ende von „Licht ins Dunkel“, der bekannten Spendenaktion für Beeinträchtigte, forderten.
Die Kritik richtete sich unter anderem an den Titel der Hilfsaktion: „Licht ins Dunkel“, so poetisch es auch klingt, impliziert, dass die beeinträchtigten Menschen im Dunkeln leben, ihre Existenz eine bemitleidenswerte ist, ausgegrenzt und hilflos auf die Großherzigkeit der edlen Spender angewiesen. Beim ORF war man erstaunt und auch ein wenig beleidigt über diese Lesart, man meint es ja nur gut. Das Gutmeinen und das unangebrachte Mitleid aber schaffen nur Distanz und lassen vergessen, dass es eine UN-Behindertenrechtskonvention gibt, die besagt, dass Menschen mit Beeinträchtigung das Recht haben, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben.
Dass es um dieses Recht in Südtirol aus mehreren Gründen nicht gut bestellt ist, zeigte kürzlich der Präsident der Südtiroler Lebenshilfe,
Hans Widmann, im Interview mit Salto.bz auf: Es fehlt an Betreuungsplätzen, es fehlt an Wohneinrichtungen, es fehlt an Personal an den Bildungseinrichtungen, es fehlt an allen Ecken und Enden. Ist Gleichberechtigung so möglich? Natürlich nicht. Mehr Geld ist nur eine Lösung für das Problem, die andere wäre es, die Belange von Beeinträchtigten und ihren Angehörigen endlich mindestens ebenso ernst zu nehmen, wie die Forderungen von Hoteliers und Wirtschaftstreibenden, denn wie Widmann treffend bemerkt: „Wenn das Soziale nicht gleichwertig wie die Wirtschaft betrachtet wird und das Verständnis dafür fehlt, gibt es einen Riss in der Gesellschaft und der gesellschaftliche Kitt geht verloren.“ Ein Kitt, der ohnehin schon immer mehr Brüche und Sprünge aufweist. Stattdessen poppt das Thema nur sporadisch auf, vorzugsweise an Weihnachten, wenn die Herzen groß sind, und unterm Jahr dann, wenn Angehörige am Ende ihrer Kräfte sind und verzweifelte Hilferufe an die Politik richten, die meistens mit „Wir können da jetzt leider nichts machen“ beantwortet werden.
Mehr Geld ist nur eine Lösung für das Problem, die andere wäre es, die Belange von Beeinträchtigten und ihren Angehörigen endlich mindestens ebenso ernst zu nehmen, wie die Forderungen von Hoteliers und Wirtschaftstreibenden.
Ich bin da nicht anders, ich bringe das Thema an Weihnachten auf den Tisch und hoffe, dass es sich seinen Weg in die Mitte der Gesellschaft bahnt; auch, weil es uns wirklich alle angeht: Nur etwa 3 Prozent der Beeinträchtigungen sind angeboren, der übergroße Rest tritt im Laufe des Lebens auf. Wer kann da schon sagen, dass er*sie und seine Familie mit Sicherheit verschont bleiben wird? Menschen wie mein Kind oder deine Mutter, dein Nachbar, deine Mitschülerin, der Rollstuhlfahrer, den du nur vom Sehen kennst, sie und ihre Bedürfnisse gehören mitten hinein in unsere Welt wie Owi, der in der Krippe lacht und den ich mir auch immer wie einen Menschen vorstelle, der ein bisschen „anders“ ist als andere und eine vielleicht nicht ganz angebrachte aber riesige Gaudi hat da neben Ochs und Esel und Jesukind. Mag sein, dass es sich dabei nur um einen Verhörer
in einem Weihnachtslied handelt, aber es ist ein Bild, das ich uns allen wünsche, wenn wir dieser Tage die „Stille Nacht“ anstimmen. Frohe Weihnachten.