Gesellschaft | In memoriam
Der weite Blick
Foto: Privat
An einem schönen Wintertag befand sich eine kleine Gruppe von Berufskolleg*innen auf dem Weg zur Allrissalm im Pflerschertal. Die Stimmung war ausgelassen. Im Visier der Neckereien stand auch die rote Mütze von Christoph, die an die Jakobinder der französischen Revolution erinnerte. Mitten im humorvollen Geschnatter brach Christoph zusammen und starb. Es war der 23. Februar 2013. Christoph hatte im Jänner seinen 58 Geburtstag gefeiert. Er hinterließ seine Frau Dorothea und seine Tochter Charlotte.
Zehn Jahre nach seinem Tod schmerzt seine Abwesenheit noch immer. Seine kritische Stimme fehlt, wenn es um gesellschaftliche Debatten in Südtirol geht, die ein klares Urteil verlangen. Dieses sein Urteil war stark auf das friedliche Zusammenleben der Sprachgruppen konzentriert und äußerte sich auf den unterschiedlichen Gebieten.
Diese Urteilskraft entstammte seinem umfassenden Wissen und seinem doppelten Blick. Er hat immer hinter die Kulissen der Wirklichkeit geschaut, um die politischen Machtverhältnisse aufzudecken. Und er hat immer nach unten geblickt, hin zu jenen Menschen, die von diesen Machtverhältnissen betroffen und diesen ausgesetzt waren, die auf der Schattenseite des Lebens standen. Nicht zufällig ist Christoph mit der roten Jakobinermütze gestorben.
Zehn Jahre nach seinem Tod schmerzt seine Abwesenheit noch immer.
Christoph hat sich diesen doppelten Blick schon sehr früh angeeignet. Dazu hatte ganz wesentlich sein familiäres und gesellschaftliches Umfeld beigetragen, das von den Idealen des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts und im weitesten Sinne des Wortes humanistisch geprägt war. Geboren und aufgewachsen in Barbian, wo sein Vater als Gemeindesekretär wirkte und wo seine Mutter als Lehrerin in der Volksschule unterrichtete, war Christoph von Zeitungen und Büchern umgeben. Im Hause Hartungen wurde gelesen und diskutiert.
Später übersiedelte die Familie nach Seis, wo sein Großvater, ein anerkannter Arzt, ein Ambulatorium eröffnet hatte. Das Haus in Seis mit einer umfangreichen Bibliothek, in die sich Christoph gern und stundenlang zurückzog, wurde sein eigentliches Zuhause, auch wenn er mit seiner Familie in Bozen wohnte.
Christoph hat aus allen kulturellen Flüssen, die in den großen Strom der Großfamilie von Hartungen zusammenflossen, kräftig geschöpft. Christoph war aufgeschlossen, vielfältig interessiert, tolerant, multikulturell eingestellt, im Urteil unabhängig und kritisch, ganz einfach eine Persönlichkeit, die auf andere übergreift.
Nach der Volksschule in Barbian besuchte er das Franziskanergymnasium in Bozen. Nach der Matura studierte er Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck und engagierte sich in der Südtiroler Hochschülerschaft (SH). 1985 schloss Christoph sein Geschichtestudium mit einer Dissertation zum Thema „Studien zur Sozialgeschichte Tirols im Vormärz (1814-1848). Menschen und Institutionen“ ab.
Gern hätte Christoph am Stadtarchiv Bozen gearbeitet, das er aufbaute, wegen der zögerlichen Haltung der Stadt Bozen wechselte er aber in den Schuldienst ans Humanistischen Gymnasium „Walther von der Vogelweide“ in Bozen, wo er die Fächer Geschichte und Philosophie unterrichtete.
Er hat ihnen nicht nur Geschichte und Philosophie gelehrt, sondern auch Offenheit, Toleranz, Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen.
Als Lehrer war Christoph sehr beliebt. Nach außen hin streng, war er letztlich ein herzensgütiger Professor, der seine Schüler und Schülerinnen nicht durch Zwang, sondern durch Neugierde zu motivieren suchte. Christoph besaß die große Fähigkeit, sein breit gefächertes Wissen in der nötigen Einfachheit und Klarheit zu vermitteln, ohne jemals Noten- oder Leistungsdruck aus zu üben. Er hat ihnen nicht nur Geschichte und Philosophie gelehrt, sondern auch Offenheit, Toleranz, Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen. Der Nachruf seiner SchülerInnen belegt seine große Beliebtheit.
Zu Beginn seiner Unterrichtstätigkeit engagierte er sich in der Schulgewerkschaft im SGB-CISL, Seit 1998 war Christoph ununterbrochen Mitglied des Landesschulrates der Provinz Bozen und bis zu seinem Lebensende mit der vorgesehenen ethnischen Rotation immer wieder dessen Vorsitzender. Die beiden großen Themen in jenen Jahren waren der dienstrechtliche Übergang der Lehrpersonen zum Land (1996) sowie die Reform der Oberschule (2011–2015). Beiden Prozessen stand Christoph äußerst kritisch gegenüber.
Neben der Schule engagierte sich Christoph in der „Volksbildung“, sowohl in der Erwachsenenbildung als auch in der schulischen Fortbildung. Eines der Ergebnisse dieser Tätigkeit war das gemeinsam mit Reinhold Staffler verfasste Buch „Geschichte Sudtirols“. Der Arbeitskreis Sudtiroler Mittelschullehrer (ASM) meinte dazu, es sei „wohl das Beste, was wir zum 20. Jahrhundert über unser Land haben“. Christophs wissenschaftlichen Arbeiten, so der ASM, „gehören zum Handwerkszeug jedes Geschichtslehrers“.
Nicht zufällig ist Christoph mit der roten Jakobinermütze gestorben.
Christoph war kein Karrieretyp, aber er hatte Ambitionen. Manchmal stand er sich allerdings selbst im Weg. Bei aller Freundlichkeit blieb er mitunter sperrig und eigensinnig, redete niemandem nach dem Mund und beugte sich nicht. Er hatte sich berufliche Alternativen zum Lehrersein durchaus vorstellen können und sich wohl auch gewünscht. Aber trotz der Wertschatzung, die ihm von vielen Seiten entgegengebracht wurde, fühlte er sich manchmal auch verkannt.
Christoph hatte in der Südtiroler Hochschülerschaft begonnen, sich politisch zu engagieren. Noch als Student näherte er sich der Südtiroler Sozialdemokratie. Seine Vorstellung, die dominante Stellung der Südtiroler Volkspartei (SVP) könne nur durch eine ethnische, sozialdemokratische Partei gebrochen werden, legte er nach seiner Kandidatur für den Landtag auf der Liste der Sozialdemokratischen Partei Südtirols (SPS) definitiv zur Seite und vertrat eine interethnische Politik. In seinem Aufsatz „Ein italienischer Linker deutscher Nation“ hat er diese Wendung autobiografisch geschildert und verarbeitet.
Hier zeigt sich ein weiteres Kennzeichen von Christoph: Er war kein Dogmatiker und immer bereit, bestimmte Haltungen zu revidieren. Gleichzeitig war er sehr hartnäckig, wenn es darum ging, Prinzipien zu verteidigen, an die er glaubte.
1985 finden wir ihn unter den Gründer*innen der Michael Gaismair Gesellschaft, in der er bis zu seinem Tode wirkte. Später engagierte sich Christoph in seiner Heimatgemeinde Kastelruth als Gemeinderatsmitglied der oppositionellen „Freien Liste“ und setzte sich vor allem für ökologische, soziale und kulturelle Belange ein.
Er war kein Dogmatiker und immer bereit, bestimmte Haltungen zu revidieren. Gleichzeitig war er sehr hartnäckig, wenn es darum ging, Prinzipien zu verteidigen, an die er glaubte.
Nachdem sich der Lebensmittelpunkt von Christoph und seiner Familie mit der Zeit immer mehr nach Bozen verlegt hatte, kandidierte er im Jahre 2000 für den Bozner Gemeinderat auf der Liste der Grünen/Verdi/ Verc. Es war eine Zeit spannungsgeladener Ereignisse, wozu unter anderem das im Jahre 2002 durchgeführte Referendum über den Sieges- oder Friedensplatz gehörte, welches das politische Klima stark angeheizt hatte. Christoph nahm seine politischen Aufgaben als Gemeinderat sehr ernst und investierte viel Zeit und Energie in Kommissionen und Sitzungen, die oft bis tief in die Nacht dauerten. Seine Arbeit als Lehrer und jene im Gemeinderat, die er beide mit Engagement betrieb, zehrten allerdings an seinen Kräften.
Es war im Janner 2003, als er einen ersten Herzinfarkt erlitt. Von diesem erholte er sich zwar relativ schnell und verstand ihn als Warnung, etwas kürzer zu treten und auf seine Gesundheit zu achten. Christoph war aber nun einmal kein Zuschauer, sondern einer, der mitreden und mitgestalten wollte.
Christoph war aber nun einmal kein Zuschauer, sondern einer, der mitreden und mitgestalten wollte.
Seine große Leidenschaft war die Geschichte. Er war Mitglied in zahlreichen Geschichtsvereinen in Tirol, Südtirol und im Trentino, ganz im Sinne seiner sprachgruppenübergreifenden Einstellung. In diesem Sinne hatte er den Sinn der Europaregion vorweggenommen.
Christoph befasste sich mit sehr unterschiedlichen historischen Themen wie mit dem Nationalismus, dem Ersten Weltkrieg, dem Faschismus und Nationalsozialismus, Kultur und Bürgertum, mit historischen Persönlichkeiten, mit der Stadtgeschichte von Bozen und mit der Schulgeschichte. Einige Vorzüge zeichneten ihn als Historiker besonders aus. Auch bei noch so „kleinen“ Themen, die nur einen geographisch begrenzten Raum betrafen, behielt Christoph immer den großen Zusammenhang im Auge. Dadurch wurden Geschichten und Geschichte verallgemeinerbar und verfielen nie in das rein Anekdotische. Dabei hatte er immer ein Ohr für die „kleinen Leute“, einen offenen Blick für Ungerechtigkeiten, eine offene Hand, die dazu führte, dass er bei seinen Gängen durch die Stadt immer wieder stehenblieb und einem am Rand Stehenden oder Sitzenden eine Münze gab.
Christoph zog sich vor der zivilgesellschaftlichen Verantwortung nie zurück, ging zu Diskussionen, gab Interviews, stritt mit den „Gegnern“, protestierte, unterschrieb Appelle, organisierte Vorträge und Tagungen, polemisierte. Er war kein Historiker im Elfenbeinturm, sondern einer der öffentlichen Stellungnahme. Er besaß eine vereinnahmende Offenheit und Lebensfreude. Er hatte eine großzügige Einstellung zur Zeit. Er war ein unverwechselbarer Mensch und ein unverbesserlicher Philanthrop, der sich in jeder Gesellschaft unbefangen bewegen konnte.
Christoph fehlt in der gesellschaftlichen Landschaft Südtirols: als Historiker und Lehrer, der geduldige Beobachter, scharfsinnige Kritiker und Kommentator. Er fehlt als öffentliche Person, wenn es darum geht, sich kritisch, mit aller Deutlichkeit, aber auch ausgewogen „einzumischen“. Seine Stellungnahmen und Positionen waren immer vom Gerechtigkeitssinn getragen und auf Vermittlung ausgerichtet.
Und vor allem fehlt er uns als Mensch und Freund.
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"die Jakobinder"-Mütze hat
"die Jakobinder"-Mütze hat Christoph, den ich als Mensch und als Historiker geschätzt und geachtet habe, nie getragen, auch wenn er sicher über die Geschichte der Tiroler Binder bestens bescheid wusste.
Er war einer der ersten, der
Er war einer der ersten, der die Notwendigkeit einer gemeinsamen Geschichtsschreibung erkannt hatte.
Für die wenigen, die in beiden Kulturen friedvoll zu Hause sein wollten und so am Zaun zwischen den beiden lebten, war er ein Visonär.
Er hat vieles bewegt und Spuren hinterlassen.