Wird das die politischen Kräfteverhältnisse im EU-Parlament auf den Kopf stellen? Nicht wirklich. Aber sie spiegeln eine weitverbreitete Unzufriedenheit wider und könnten selbst die klassisch EU-freundlichen Parteien beeinflussen.
Dass und warum ich persönlich von der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung und Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft überzeugt bin, habe ich schon im 1. Teil dieses Beitrages („Warum die EU-Wahl für uns Südtiroler wichtig ist“) kurz ausgeführt. Aber es wäre natürlich blind und eine sträfliche Vernachlässigung, wenn man nicht zur Kenntnis nehmen würde, dass die Akzeptanz der EU in sehr großen Bevölkerungsschichten innerhalb der letzten 10-15 Jahre drastisch gesunken ist. Die Umfragen hierzu sind ungenau und widersprüchlich, aber immerhin zeigen sie einen nicht bestreitbaren Trend auf. In Österreich ergab die jüngste Umfrage, dass nur mehr 23 Prozent der Befragten finden, dass sich die EU am richtigen Kurs befinde. Beim österreichischen Beitrittsreferendum 1995 votierten immerhin noch 66,6% dafür. Allerdings erklärten in der gleichen Umfrage auch nur mehr 24 Prozent der Befragten, dass sie den Kurs der Wiener Regierung richtig fänden. Also ist der EU-Frust auch ein allgemeiner Politik-Frust – und das nicht nur in Österreich. Europaweit gehen die Ergebnisse der EU-Akzeptanz-Umfragen ziemlich auseinander: die einen sprechen von noch 49%, andere von nur mehr 30% im Unterschied von den früheren 60% . Wird wohl auch viel von den Fragestellungen abhängen.
Die große EURO-Desillusionierung
Gründe für diesen „Liebesentzug“, wenn man so will, gibt es mannigfache und man könnte eine lange Liste von Enttäuschungen anführen. Aber allesamt kann man zweifelsohne mit ein paar Schlagworten beschreiben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer kam es zu einer gewaltigen Explosion der Globalisierung. Der unkontrollierte und ungebremste Siegeszug des modernen Turbokapitalismus kannte keine Grenzen mehr.
Das brachte sicher wirtschaftlich auch viele Vorteile – für die Wirtschaft, nicht für die einfache Bevölkerung – nach dem Motto: der Wirtschaft geht es blendend, dem Volk nicht. Steigerung des internationalen Konkurrenzdrucks, Öffnung der Waren- und Arbeitsmärkte, Steuerwettbewerb nach unten, um Unternehmen im Land zu behalten, vulkanartiger Einzug der Finanz- und Börsenspekulation, die zu 80 Prozent von Computern im Nano-Sekunden-Rhythmus automatisch gelenkt wird, jährliche Millionengehälter für 25-jährige Finanzjongleure und Broker, aber jahrelange prekäre Arbeitsverhältnisse selbst für qualifizierte junge Leute….usw. usf. Wir alle kennen die Geschichten.
Für die Europäer wurden all diese Prozesse natürlich in erster Linie mit der EU in Verbindung gebracht. Sie, die EU, war die Institution, die uns alle eigentlich vor den Grausamkeiten der weiten Welt schützen sollte – stattdessen trat sie uns als Vollstreckerin der neuen Weltordnung – inklusive Einheitswährung - entgegen.
Die Auflösung der alten „Kirchen“
Der renommierte französische Soziologe Emmanuel Todd hat schon im Jahr 1988 eine fundierte und exzellente Untersuchung über die Auflösung der traditionellen Gesellschaftsverhältnisse und deren Wirkung auf die politische Landschaft publiziert (La nouvelle France). Alles, was bis in die 70er Jahre den Menschen Zusammenhalt, aber vor allem Gewissheit und Sicherheit gegeben hat, so Todd, ist allmählich zerbröselt. Die „alten Kirchen“ konnten ihre Funktion nicht mehr erfüllen: nicht die katholische Kirche, die mit der Zeit nicht Schritt halten konnte, nicht die kommunistischen und sozialistischen Parteien, weil deren Ideologien überholt waren und auch nicht mehr der zentralistische Wohlfahrtsstaat, weil er durch den allmächtigen Turbokapitalismus in Bedrängnis geriet. Das war vor fast 30 Jahren. Inzwischen sind diese gesellschaftlichen Umwandlungen durch die neuen Produktionsverhältnisse, durch die modernen Digital-Technologien und durch die generalisierte Globalisierung noch hundertfach beschleunigt worden. Aber neben dem Verlust der wirtschaftlich-sozialen Sicherheiten hat sich vor allem ein geistig-intellektuell-spirituelles Vakuum aufgetan, das vielleicht noch folgenschwerer ist.
Die Antwort der Rechten
Der erste, der diese erdbebengleiche Verunsicherung der Leute auszunutzen verstand, war Jean-Marie Le Pen mit seinem Front National. Er beschwor die Rückkehr zur Familie und zur ethnisch reinen Nation. Einer seiner berühmten Wahlslogans: „Zuerst mein Bruder, dann meine Schwester, dann mein Cousin, dann mein Schwager… und dann erst alle anderen. Die Franzosen zuerst!“ Diese Berufung auf ein tribalisches, den archaischen CLAN-Gemeinschaften nachempfundenes, Wertesystem hat der Sehnsucht von Millionen orientierungsloser Franzosen die Illusion einer Wiederkehr der Sicherheit gegeben.
Nichts anderes machen heute all die rechts-rechten Gruppierungen und Parteien in Europa, die versprechen, dass eine Rückkehr auf selbstbestimmte Regionen und Kleinstaaten – von Venetien, über Padanien, Katalanien, Schottland, Südtirol u.a. – eine Schutzgarantie gegen die Mechanismen der globalisierten Welt geben könnte. Nur wissen wir alle: es gibt heute keine Wagenburg mehr, die uns von der Außenwelt abschotten und uns zur Insel der Seligen machen kann.
Sind die Anti-EU-Populisten eine echte Gefahr?
Nur bedingt. Die Süddeutsche Zeitung hat dazu in einem bemerkenswerten Bericht die Thesen des Politologen Cas Mudde knapp und verständlich zusammengefasst. Mudde erforscht seit 2 Jahrzehnten die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien in Europa und wartet mit überraschenden Aussagen zur Entzauberung dieser Bewegungen auf.
Laut seinen Berechnungen werden die Rechtsextremen selbst bei einem – noch wackeligen – Wahlbündnis ganze 8 Sitze im EU-Parlament dazugewinnen. Der große Anteil der euroskeptischen Neu-Abgeordneten werde von der Grillo-Bewegung kommen. Erfahrungsgemäß haben sich bisher aber nicht einmal die rechts-rechten Gruppen im EU-Parlament auf Dauer auf eine gemeinsame Politik einigen können. Zu sehr seien sie national gesinnt und unter einander zerstritten. Dass es zu einem Schulterschluss mit EU-Skeptikern à la Grillo oder gar mit - im Prinzip EU-befürwortenden - EU-Kritikern á la Tsipras kommen könnte, sei so gut wie ausgeschlossen. Der wirklich lesenswerte und nicht zu lange Artikel:
http://www.sueddeutsche.de/politik/europawahl-keine-angst-vor-den-populisten-1.1915035
Conclusio
Was mir an der Analyse Muddes fehlt: auch wenn die Anti-EU-Populisten aller couleurs am Gang der EU-Geschichte mit geschätzten 27-30% der Stimmen und Sitze nicht viel ändern können, sollte man ihre propagandistische Wirkung nicht unterschätzen. Wir haben ja leider oft genug mitansehen müssen, wie sich auch grundsätzlich demokratische und pro-EU-Parteien unter dem Druck der Rechts-Rechten und der Boulevardzeitungen - zwar mit Schamgetue und eingezogenen Schwänzen – den Wählern dieser Kräfte angebiedert haben. Nach dem Motto: dem Volk auf`s Maul schauen, anstatt dem Volk echte demokratische Alternativen zu bieten.