Gesellschaft | Covid

Brief an meinen Chefredakteur

In Nr. 10/2023 hat die FF ein aktuelles Thema aufgegriffen und titelt „Die Covid-Lektion: Warum es wichtig ist, die Pandemie aufzuarbeiten". Dazu mein offener Brief.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Sehr geehrter Georg Mair, sehr geehrter Chefredakteur,

in dem oben genannten Heft schreibst du den Leitartikel. Ich hab nicht ganz verstanden, was du sagen willst. Was aber durch den ganzen Artikel atmet, ist eine unterschwellige aggressive Verdrossenheit, ein Unwille, ein Groll gegen das ganze Thema, gegen die „Besserwisser“, gegen „solche Leute“, gegen „billige Schuld Zuweiser“ verbunden mit der Warnung vor „Lügnern“ und „Hochstaplern“. Klingt bis hierher nicht nach Offenheit und Bereitschaft zu „ehrlicher Gewissenerforschung“, die möglicherweise auch einen Blick auf sich selber einbezieht. Nachdem du weiter im Text die Notwendigkeit „harter Auseinandersetzungen“ betonst, kommst du dann - wie es scheint -  zum Kern deines Anliegens, denn jetzt lässt du die Sau aus und das tönt dann so: „Gleich weiter wie gehabt machen auch die Schwurblerinnen und Schwurbler .… ihren Egoismus betrachten sie heute noch als Streben nach Freiheit und sich selbst als Helden. Jetzt sind sie halt für Putin.“

Ich bring aus der Vergangenheit ein relativ hohes Maß an Sympathie für dich als einen integren Journalisten mit. Vielleicht trägt auch das dazu bei, dass diese Sätze – wie man so schön sagt – etwas mit mir machen und mich dazu bringen, dir öffentlich zu schreiben. Diese Sätze machen mich wütend. Aber die Wut ist das sekundäre Gefühl. Das primäre ist der Schmerz der Verletzung. Du schreibst nicht in dein Tagebuch, sondern du sprichst kraft deines Amtes alle Menschen im Land an, alle deine Leserinnen und Leser, Abonnentinnen und Abonnenten, also auch mich.

Deshalb will ich dir etwas sagen. Ich bin (wie viele andere Menschen) nicht geimpft und ich bin (wie viele andere Menschen) für den umgehenden Beginn von Verhandlungen im Ukrainekrieg. Ich will deshalb nicht, dass du so mit mir sprichst. Ich verbiete dir, Chefredakteur einer verbreiteten Zeitschrift und somit öffentlicher Verantwortungsträger, mich in so einer minderen und dummen Sprache anzureden. Ich will nicht stumm zuschauen, wie du dich selber erniedrigst, in die unterste aller unteren journalistischen Schubladen greifst, von dort vergammelte Worte herausklaubst und sie mir ins Gesicht schmierst. Ich verbiete dir, mich öffentlich zu beleidigen. Wenn in der Rede von ‚Aufarbeitung‘ ein Funken von Wahrheit sein soll, dann muss als erstes mit diesem Dreck Schluss sein. Deshalb verbiete ich dir, diese alte Hetze weiter zu betreiben.

Heute, im März 2023, liegen unzählige Informationen über das, was in den vergangenen drei Jahren gelaufen ist, offen auf dem Tisch. Und es sind leider sehr viele grundlegende Dinge, die man lieber nicht glauben möchte. Es gibt somit zwei Möglichkeiten: entweder du kennst diese Informationen nicht, oder du kennst sie und schiebst sie beiseite, weil sie dir nicht passen. Beides ist in deiner Funktion, die mit öffentlicher Macht ausgestattet ist, mehr als schlimm. Du sagst, du willst keine billigen Schuldzuweisungen. Einverstanden. Aber es gibt den Begriff der Verantwortung, ohne den keine Gesellschaft leben kann. Diese Verantwortung ist unterschiedlich verteilt und je höher die Ebene von Macht und Einfluss, desto größer ist sie. Die ‚Aufarbeitung‘ eines kollektiven Traumas, ohne die Frage der Verantwortung zu stellen, braucht gar nicht erst begonnen werden. Da hilft kein Jammern. Eine Generalabsolution im Sinne von ‚alle wollten das Gute und niemand wusste es besser‘ kann auch der Bischof erteilen.

Deshalb, weil du Verantwortung trägst, möchte ich, dass du dich öffentlich bei allen Menschen, die nicht geimpft sind oder die für Verhandlungen im Krieg in der Ukraine eintreten, für diese Aussagen entschuldigst. Und wenn die Redaktion Handlungsbedarf sieht, dann soll sie handeln. Es reicht.