Gesellschaft | Straßenzeitung zebra

Sanfter Totalitourismus

Die zaghaften Wurzeln, die der Tourismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Südtirol schlug, haben Südtirol und seine Identität heute fest im Griff. Ein Blick zurück.
Kasthelruth Hotelbau
Foto: Archivmaterial: Thomas Mayr

A. Moser zog 1954 aus ihrem Heimatdorf Prags ins Grödnertal, um dort in einem Gastbetrieb zu arbeiten. Anstatt auf Zigtausende Gäste aus aller Welt stieß sie damals auf das Unverständnis ihrer Mutter: „Auf welcher Alm bist du da gelandet?“, meinte diese, als sie die wenigen, zwischen kargen Hängen und grünen Wiesen eingeklemmten Häuser in Wolkenstein erblickte. Trotz der aus Kriegszeiten bestehenden Bahn- und Busverbindungen ins Grödnertal und der ersten Hotels, die bereits im 19. Jahrhundert in St. Ulrich, St. Christina und Wolkenstein eröffnet hatten, verliefen sich im Sommer wie im Winter nur wenige Gäste in das enge Tal.

„Es regnete und war dunkel und von den Grödnern verstand ich überhaupt nichts“, erinnert sich A. Moser daran, wie sie damals zum ersten Mal in Wolkenstein aus dem Bus stieg. Nach wenigen Stunden Schlaf, die sie mit anderen Frauen im Dachgeschoss des Hotel Post teilte, übernahm sie die Bedienung in der hoteleigenen Bar. Eine Arbeit, die ihr trotz des vielen Wartens auf Gäste gefiel und die es ihr erlaubte, der touristischen Expansion der 50er-Jahre beim Schlüpfen zuzusehen.

 

Hotelbau Kastelruth

Bau des Hotel Mayr in Kastelruth: Anfänge der touristischen Expansion der 50er und 60er Jahre. (Archivmaterial: Thomas Mayr)

 

Transitland Südtirol

 

Vor der Expansion der Tourismusbranche in der Nachkriegszeit und dem seither anhaltenden Wachstum liegen jedoch die Anfänge des Fremdenverkehrs. Anfänge – so der im Hotel Elephant in Brixen aufgewachsene Historiker Hans Heiss –, die viele Jahrhunderte zurückliegen: „Menschen sind immer schon gereist und die Brennerroute war aufgrund des niedrigen Passes eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Nord und Süd.“ Die Reise, deren Etymologie auf das Sich-zum-Krieg-Erheben („to rise up“) zurückgeht, war damals, – bevor der „Tourismus“ um 1800 in den Enzyklopädien auftauchte –, aber vor allem eines: ein Risiko, das nur aus triftigem Grund eingegangen wurde. „Etwa zu Zwecken des Handels oder anderer wirtschaftlicher Tätigkeiten oder um beim Heiligen Vater in Rom das Seelenheil zu erflehen“, so Heiss.

Das Risiko, das Reisende auf sich nahmen – und das heute von Buchungsportalen, abgepackten Reiseprogrammen und Versicherungen aufgefangen wird –, verlangte den Reisenden gute Beziehungsfähigkeit ab: „Man musste sich absprechen, verstehen, wo man übernachten, wem man vertrauen und auf welche Reisemittel man sich verlassen konnte.“ Diese Notwendigkeit traf auch in der Bevölkerung auf ein offenes Ohr: „Man war zwar argwöhnisch, trat den Reisenden aber meist respektvoll entgegen. Das hat der christliche Glaube so verlangt: Gott konnte sich hinter den Reisenden verbergen“, so Heiss.

 

Vom Gasthof zum Hotel

 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste sich die Reise allmählich von wirtschaftlichen und sakralen Zwecken. Das gehobene Bürgertum begann zur Muße und Erholung zu reisen und entdeckte nach Italien zuerst die Schweiz und später Tirol – allen voran die Kurorte Gries und Meran – als Tourismusdestinationen. Der Bau der Eisenbahn entlang der Brennerroute (1867), ins Pustertal (1871) und nach Meran (1881) erschloss neue Reiseziele für ein breiteres Publikum, das nun auch ohne eigene Verkehrsmittel in die Kur-, Sommerfrische- und Alpinismus-Destinationen Tirols aufbrechen konnte.

Viele Gasthöfe fungierten noch als Knotenpunkte zwischen Reisenden und Einheimischen. Doch bereits um 1900 wurden mit ersten Grandhotels auch in Tirol plötzlich Strukturen in die Landschaft gestellt, die den sich bildenden Heimatpflege- und Verschönerungsvereinen schon damals ein Dorn im Auge waren: Die Bauten seien anonym, zerstörten das Landschaftsbild und würden die Bedürfnisse der Bevölkerung ignorieren. Wie Heiss erklärt, sind „der Gasthof und das Hotel eigentlich sehr weit entfernte Cousinen“: Der Gasthof versucht, die Notwendigkeiten der lokalen und der reisenden Bevölkerung zusammenzubringen und beruht intern auf egalitären Beziehungen. Das Hotel bemüht sich hingegen um die Distinktion der Gäste von der einheimischen Bevölkerung und baut auf die streng hierarchischen Strukturen der Adelspaläste.

„Arbeit im Fremdenverkehr ist vor allem Beziehungsarbeit und Beziehungsarbeit ist historisch gesehen Frauenarbeit.“ - Hans Heiss

Mit der neuen Hierarchie wandelt sich auch das Personal: „Arbeit im Fremdenverkehr ist vor allem Beziehungsarbeit und Beziehungsarbeit ist historisch gesehen Frauenarbeit“, so Heiss. Wurden Gasthöfe aufgrund der wichtigen Beziehungsarbeit bis auf wenige Positionen vor allem von Frauen betrieben, schaffte das Hotel durch seine hierarchischen Strukturen neue, gut bezahlte und respektierte Positionen, die von Männern besetzt wurden: Den Küchenchef oder den Oberkellner zum Beispiel. Im Hintergrund, zwischen Waschküche und Zimmern versteckt, wurde aber auch hier der Großteil der Arbeit von Frauen erledigt.

 

Kasthelruth Hotelbau

Frauen als Protagonistinnen in der Tourismusbranche. (Archivmaterial: Thomas Mayr)

 

Die große Expansion

 

Auch abseits der Grandhotels entstanden um die Jahrhundertwende neue Strukturen, expandierten oder gingen vom Gasthof ins Hotel über. Eine Tendenz, die bis heute nur von der Kriegs- und Zwischenkriegszeit unterbrochen wurde – und vor allem ab Mitte der 50er-Jahre Fahrt aufnahm: „Als ich 1954 nach Wolkenstein kam, haben um uns herum alle gebaut“, erinnert sich A. Moser. „Die Bauherren schliefen im Keller oder unterm Dach und arbeiteten Tag und Nacht.“ Durch das Deutsche und Italienische Wirtschaftswunder befeuert, strömten immer mehr Gäste nach Südtirol. Einkommenszuwächse und die Ausweitung der Urlaubszeiten ermöglichten einer breiteren Bevölkerung zu reisen: Zuerst in die bereits etablierten Tourismusdestinationen nach Meran oder ins Hochpustertal. Später auch in die noch landwirtschaftlich geprägten Seitentäler, die sich dem Tourismus zu öffnen begannen: „Einmal die Woche kam ein Bus aus Deutschland“, erinnert sich die Zeitzeugin Bernadetta Moser an die Anfänge des Fremdenverkehrs im Tauferer Ahrntal. „Die Touristen blieben dann einige Wochen, nahmen ein Zimmer mit Frühstück und fuhren dann mit demselben Bus wieder zurück.“

„Der Tourismus in Südtirol kaschiert, dass er ethnisch ist." - Hans Heiss

Die Nachfrage, die durch die immer stärker werdenden Reiseströme entstand, stieß auf eine Bevölkerung, die vielerorts kaum Alternativen zum Tourismus sah: „Industrie und öffentlicher Dienst spielten eine begrenzte Rolle, waren auf Bozen und Meran beschränkt und der italienischen Sprachgruppe vorbehalten; die Deutschen bekamen keinen Fuß hinein“, so Heiss. Und weiter: „Wer nicht in der Landwirtschaft oder im Handwerk tätig war – Sektoren, die in der Nachkriegszeit im Niedergang waren – wanderte aus oder suchte Arbeit im Tourismus. Der Tourismus hat viele aufgefangen.“ Eine Aussage, die auch die Leiterin des „Touriseum“ in Meran, Ruth Engl, bestätigt: „Während heute Arbeitnehmer:innen aufgrund der möglichen Alternativen selbstbewusst auftreten und auf gute Konditionen und die Realisierung von individuellen Lebensvorstellungen pochen, war das Gastgewerbe für bestimmte Bevölkerungsgruppen lange Zeit alternativlos.“

 

Schön und zehrend

 

Eine Alternativlosigkeit, die auch die Arbeitsbedingungen des Personals prägte: „Meine Schicht begann um 8 Uhr früh und endete um 1 Uhr nachts, dazwischen hatte ich eine Stunde Pause. Ruhetag gab es keinen. Urlaub hatte ich insgesamt 14 Tage im Jahr“, erinnert sich A. Moser Bei den Wäscherinnen und Zimmermädchen kam zu den langen Arbeitszeiten noch harte körperliche Arbeit hinzu. „Wir wurden ausgenutzt, schliefen zu fünft in einem Zimmer und das Essen war wirklich schlecht“, so Moser. Auch Gertraud Steinkeller, die Anfang der 60er-Jahre eine Wirtstaberne und dann ein Hotel in Kastelruth führte, kennt die langen Arbeitszeiten: „Ich stand um halb 6 auf und schloss den Laden um 3 Uhr morgens zu. Ich habe immer überall mitgeholfen – wenn’s sein musste, auch beim Abspülen“, erzählt Steinkeller. Ihre Söhne spannte sie in die Arbeit am Hotel ein: „Jeder hatte seine Aufgabe, sie mussten ein, zwei Stunden beim Lift oder in der Küche helfen und durften dann wieder gehen.“ War das Hotel für einige Wochen geschlossen, wurde die Wäsche geflickt und alles für die nächste Saison vorbereitet. Ein Leben außerhalb des Betriebs gab es nicht. Eine Tatsache, die auch die Beziehung zu den Gästen prägte, die Steinkeller als „Großfamilie“ bezeichnet: „Die Gäste blieben im Schnitt zwei bis drei Wochen. Viele von ihnen kamen jedes Jahr und wenn sie nicht mehr kamen, kamen ihre Kinder“, erinnert sich die Wirtin. Eine der Gäste hat sie sogar zur Taufpatin ihres Sohnes ernannt. Auch viele Angestellte berichten von einem oft regen Austausch mit den Gästen, der in Briefwechseln, Telefongesprächen oder gegenseitigen Besuchen endete.

 

Kneipe Kastelruth
Die erste Taverne in Kastelruth: Bergparadies im Hintergrund. (Archivmaterial: Thomas Mayr)

 

Feine Identität

 

Dass sich viele trotz der Omnipräsenz der Gäste und der zehrenden Arbeitszeiten gerne an ihre Arbeit zurückerinnern, erklärt Hans Heiss auch durch den identitätsstiftenden Charakter des Tourismus: „Durch den Kontakt mit den Gästen wird das eigene Ego gestreichelt, – in keinem anderen Beruf erhält man so schnell Anerkennung wie in der Tourismusbranche.“ Gleichzeitig wird auch die Südtiroler Identität gefestigt: „Das Selbstbewusstsein der Südtiroler und Südtirolerinnen, dass wir ein schönes Land haben, speist sich wesentlich durch den Tourismus. Die Augen der Tourist:innen sind unsere Augen geworden.“ Der Tourismus hat also eine enorme Bedeutung: „Er ist identitätsbildend und die Tourismustreibenden sind in einer entsprechend starken Position.“ Diese „Südtiroler Identität“ der Touristiker:innen ist eine, die vor allem im deutschsprachigen Raum verwurzelt ist: „Der Tourismus in Südtirol kaschiert, dass er ethnisch ist. Weil er so international wirkt und viele italienische Gäste kommen, scheint er weltoffen. Aber historisch gesehen ist die Branche sehr deutsch. Auch heute noch sind die meisten Strukturen fest in deutscher (und ladinischer) Hand“, so Heiss.

 

Und heute?

 

Heute (wie damals) haben viele genug von der touristischen Expansion. Die touristische Entwicklung hat sich immer weiter zugespitzt und erreicht Spitzenwerte von über 34 Millionen Nächtigungen im Jahr – 20 Prozent mehr wie noch im Jahr 2016. Zudem hat sich die Aufenthaltsdauer der Gäste deutlich verkürzt: Waren es um 1970 noch mehrere Wochen, so beläuft sich die mittlere Aufenthaltsdauer heute auf vier bis fünf Tage. Eine Entwicklung, die verstopfte Straßen, frustriertes Personal und unwohnliche Ortschaften zur Folge hat: „Viele kommen nur noch für einen Tagesausflug oder zum Skifahren nach Wolkenstein“, so Moser. „Morgens kommen die Autos ins Dorf und abends fahren sie wieder weg. Wer sich eine Übernachtung in Wolkenstein leisten kann, findet alles im Hotel – es gibt gar keinen Grund mehr, mit den Einheimischen in Kontakt zu treten.“

Laut Heiss, der den Tourismus aufgrund seiner Tendenz, alle Lebenswelten zu durchdringen, als „sanften Totalitarismus“ beschreibt, müssen der touristischen Entwicklung klare Grenzen gesetzt werden. Dabei rückt der Historiker neben der immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Kritik vor allem die Natur in den Vordergrund: „Das Ganze hat heute eine existenzielle Dimension. Die Natur gerät ins Rutschen. Und der Tourismus ist ein wesentlicher Treiber der negativen Umweltentwicklungen. Das alles fällt uns auf den Kopf. Diese Erkenntnis sollte endlich Wirkung zeigen.“

 

Una possibile soluzione sta proprio nelle ultime considerazioni relative alla durata del soggiorno medio. Ridurre i mordi e fuggi a favore di soggiorni più lunghi e "slow". Il peso ambientale di un turismo giornaliero non è sostenibile, non tanto per la mancanza di strutture viarie quanto per l'impatto dell'inquinamento.
Dobbiamo cercare una nuova via per il turismo. Numeri chiusi, disincentivare il mordi e fuggi, sostenere una mobilità (realmente) verde... Il tutto a favore non solo dell'economia ma anche della popolazione che ci vive e soprattutto del turista stesso. La prima vittima dell'over tourism è proprio lui.

Do., 22.06.2023 - 09:08 Permalink

Bellissimo articolo che racconta una storia di questa terra ma ancge del cambiamento della società. 50 anni fa mia mamma insegnavqbin val Casies e mi racconta di un mondo che jon c'è più, dove si poteva mangiare la banana una volta a settimana. Ecco, il nostro vivere oggi è il risultato del continuo progresso e globalizzazione. E per inciso nessuno la può fermare. Non so cosa saremo fra 50 anni ma di certo di vivrà in una realtà diversa da quella di oggi. Si può chiedere al mondo di cambiare stile di vita? Volete erigere dei muri virtuali? Provateci...

Do., 22.06.2023 - 09:37 Permalink