Da ist ihm schon ein richtiges Meisterstück gelungen, dem Arno Kompatscher. Erstmals treffen sich ein Österreichischer Bundeskanzler und ein Italienischer Ministerpräsident auf Südtiroler Boden. Die malerische Kulisse von Schloss Prösels ließ den beiden gar keine andere Chance, als ihre Herzen zu öffnen. Wirklich bemerkenswert ist dabei, dass die beiden Kompatschers Einladung gefolgt sind und - man kann es gar nicht glauben - bei diesem Anlass nicht die Südtiroler Autonomie im Mittelpunkt des Interesses stand. Ein wohltuender Umstand, der die mitreisende Regionenministerin Maria Carmela Lanzetta schlicht überforderte und Sottosecretario Graziano Delrio zum Improvisieren zwang. Letzterer konnte noch punkten, da er sich offensichtlich nicht zum ersten Mal Gedanken zu einem postnationalen Charakter des zusammen wachsenden Europas gemacht hatte. Allerdings wurde Delrio wie Lanzetta im Lichte der fulminanten Vorträge der beiden Vorredner Sergio Fabbrini und Robert Menasse zu blassen Mauerblümchen deklassiert.
Fabbrinis und Menasses Aussagekraft erschloss sich den Zuhörern wohl nur, wenn sie im Kontext der Vorträge des Vortages gesehen werden. Allen voran jene von Josef Isensee, Werner Weidenfeld und Francesco Salerno. Ohne den Wert der anderen Beiträge schmälern zu wollen, war es dieses Quintett, das, in optimaler Reihenfolge vorgetragen, ein Gedankengebäude zeichnete, dessen überzeugte Wucht das gängige Verständnis der EU präzise sezierte, bis aufs Fundament zerstörte, um dann erneut konstruktiv, zielstrebig und vor allem realistisch bis optimistisch Wege nach morgen zu skizzieren. Ein Erlebnis. Nein, Prösels war keine Provinzveranstaltung. Das war auf Europaniveau. Ich freue mich auf den versprochenen Tagungsband, der alle Vorträge enthalten soll. Nachlesen tut Not, bevor ich mir eine inhaltliche Zusammenfassung anmaßen würde. Nur so viel vorweg: die Regionen können in der EU eine Stärkung entgegen sehen. Die Nationalstaaten eher nicht.
Prösels war natürlich auch Politik. Der Zeitpunkt war bestens gewählt: Die Europaskepsis der vergangenen EU-Wahlen noch präsent, Großbritannien isoliert, Renzi gerade frisch die EU-Ratspräsidentschaft anvertraut und vor allem: eine Sozialdemokratische Regierung in Rom wie auch in Wien. Die äußerst entspannte, fast herzliche Gestik zwischen Werner Faymann und Matteo Renzi, ja, auch die kann man als historisch empfinden.
Bevor die beiden Staatsmänner das Wort ergreifen konnten, sprach Kompatscher clever seine Bitte aus: möget ihr doch beide unsere EVTZ/Europaregion-Bestrebungen unterstützen. Mag man die darauf folgenden Reden von Faymann und Renzi irgendwo zwischen staatsmännisch und belanglos einordnen, das, worauf es ankam, erfüllten sie bestens: „Ihr habt meine volle Unterstützung“ und „io vi sostengo“ bekamen Kompatscher, Rossi und Platter vor all der Öffentlichkeit zu hören. Man konnte den Aufbruch spüren: Unsere Euregio wird nicht mehr opportun die von anderen erkämpften Möglichkeiten ausschöpfen. In Zukunft wollen wir die Lokomotive der Regionalisierung sein. Vorpreschen und als Modell für andere gelten. Wenigstens so, wie wir unsere Autonomie stolz herzeigen.
Politik ist schmutzig und wehe dem, der sich von allzu eitler Sonne auf Prösels einseifen ließ. Zwei sozialdemokratische Regierungsspitzen, die bereit sind, an die Euregio, die sich bekanntlich an der Europäischen Volkspartei orientiert, transnationale Kompetenzen und somit Souveränität abzugeben? Arno Kompatscher und Ugo Rossi mag man die Euphorie zugestehen, aber spätestens bei der Rede von Günther Platter hatte das zarte Pflänzchen seine Unschuld verloren. Platter sprach vom Brennerbasistunnel (BBT) als hätte es die enthüllten Studien der letzten Wochen nicht gegeben, als wäre der Tunnel per Definition mit Euregio gleich zu setzen. Der nachmittägliche Besuch der Baustelle in Mauls könnte auch als satte Lobbyveranstaltung gedeutet werden.
Kurz überkamen mich die Zweifel, ob denn die Spitzenpolitiker wegen der Euregionalität oder wegen des Tunnels eingeflogen waren. Kurz hatte ich an einen Kuhhandel gedacht. Der Tunnel, der sich wohl eh nicht mehr verhindern lässt, gepaart mit Transitgarantien gegen freie Hand bei der Gestaltung der Europaregion? Doch dann hatten mich Platters Forderungen nach Erhöhung der LKW-Maut im südlichen Tirol wieder beruhigt und die Sonne über Prösels erlaubte ungetrübten Blick auf das Eisacktal.