Gesellschaft | SALTO Gespräch

Das Kindeswohl als oberste Priorität?

Heidi Keller ist Expertin im Feld der Entwicklungspsychologie. Ein Interview über das Zeitalter der Kindzentriertheit, Erziehungsstile und das Parental-Burnout-Syndrom.
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  • Heidi Keller (geb. 1945) gilt im internationalen Raum als eine der renommiertesten wissenschaftlichen Expertinnen im Feld der Entwicklungs- und Kulturpsychologie. Sie war Professorin an der Universität Osnabrück und bis Oktober letzten Jahres Direktorin von „Nevet“, einem multidisziplinären Forschungs- und Ausbildungszentrum an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Keller forscht über Sozialisation im Kulturvergleich und den Wandel von Erziehungsideologien. Sie interessiert sich insbesondere dafür, wie frühe Beziehungsnetzwerke entstehen und funktionieren. Aufgrund ihrer empirischen Forschungsarbeit ist sie zu einer der größten Kritikerinnen der Bindungstheorie geworden, welche sie fundamental infrage stellt. SALTO hat die Entwicklungspsychologin in Innsbruck getroffen.  

    SALTO: Frau Keller, was versteht man unter Kindzentriertheit? 

    Heidi Keller: Bei der Definition von Kindzentriertheit gibt es zwei unterschiedliche Perspektiven. Die eine bezieht sich auf die Rolle, die Kinder für die Entwicklung und die Sozialisation anderer Kinder spielen. Die andere Definition bezieht sich auf das einzelne Kind. Die Kindzentriertheit, so wie wir sie unter der westlichen Mittelschicht-Definition verstehen, ist eine politische Entscheidung der UN-Kinderrechtskonvention, die das Kindeswohl als oberste Priorität definiert und das einzelne Kind in den Mittelpunkt stellt. 

  • Heidi Keller: Die Entwicklungs- und Kulturpsychologin ist aufgrund ihrer empirischen Forschungsarbeit zu einer der größten Kritiker:innen der Bindungstheorie geworden. Foto: Regina Polster
  • Welche Vorstellungen von Kindeswohl herrschen bei uns vor? 

    In einer westlichen Mittelschichtsfamilie wird heute sehr viel Wert auf die Mentalisierung gelegt, also auf die Wünsche des Kindes, auf seinen eigenen Willen, seinen Intentionen und Präferenzen. Dieses Konzept spiegelt sich vor allem in vielfach beobachtbaren Interaktionen zwischen Müttern und ihren Babys wider, die wir wahrscheinlich alle kennen. Die Mutter fragt dabei ihr Kind: Was magst du? Was machen wir morgen? Was gefällt dir oder was gefällt dir nicht? Lieber selbst laufen oder im Buggy sitzen? Was soll ich anders machen? Und so weiter. Diese innere Welt, das, was das Kind will, ist das Entscheidende.

    „Die innere Welt, das, was das Kind will, ist das Entscheidende.“

    Ein anderes Beispiel: Unsere Kinder fordern ständig die Aufmerksamkeit von erwachsenen Personen ein. Man soll ihnen zugucken, bei irgendwelchen nicht besonders relevanten Tätigkeiten im Schwimmbad oder auf dem Spielplatz. „Du sollst schauen“, hört man da ganz häufig. Wir denken, dass wir unsere Kinder unabhängig erziehen, schaffen aber gleichzeitig durch unsere Kindzentiertheit große Abhängigkeiten. Das Kind wird nicht selbstständig, sondern von der ständigen Aufmerksamkeit, der ständigen visuellen Begleitung und ja – auch von unserem ständigen Lob abhängig.

    Finden Sie das falsch? 

    Nein, gar nicht. Falsch daran ist nur, dass eine kleine Minderheit für die gesamte Weltbevölkerung definiert, was man unter „Kindeswohl“ versteht. Dieses streng definierte Kindeswohl ist nämlich ein kulturelles Produkt, das von theoretischen Vorstellungen abgeleitet ist und mit den Vorstellungen der sog. „majority-world“ (Anm. d. Red.: Als „majority-world“ werden die Länder bezeichnet, die zusammengenommen den größten Teil der Weltbevölkerung ausmachen) eigentlich nicht so viel zu tun hat. 

    Was kritisieren Sie daran? 

    Ich kritisiere das, weil diese Autonomie eine Illusion ist. Die Erwachsenen definieren den Rahmen und den Spielraum, die Kinder sollen dann innerhalb dieses Rahmens selbstständige Entscheidungen treffen. Die Erwachsenen stellen die Fragen, geben aber fast gleichzeitig schon die Antworten vor. Das sind Machtstrukturen, die das Kind in ein bestimmtes Umfeld einordnen. Dass es dabei später zu Missverständnissen der Selbsteinschätzung kommen kann, verwundert nicht. Zusammenfassend würde ich sagen, dass sich alle bzw. fast alle Familien das Wohl ihrer Kinder zum Ziel setzen. Allerdings setzt jede Familie andere Maßnahmen und alle Familien bringen ihren Kindern Verhaltensweisen bei, mit denen sie sich später möglichst gut in den kulturell vorgegebenen Rahmen integrieren können. Meiner Meinung nach ist alles eine Frage des kulturellen Modells. Definieren wir Menschen als einzigartig und selbstbestimmt und geben ihnen das Recht, im Mittelpunkt zu stehen? Oder sozialisieren wir Kinder eher als Teil einer sozialen Gruppe, ohne der Mittelpunkt oder eine Besonderheit zu sein? 

  • Heidi Keller: „Definieren wir Menschen als einzigartig und selbstbestimmt und geben ihnen das Recht, im Mittelpunkt zu stehen? Oder sozialisieren wir Kinder eher als Teil einer sozialen Gruppe, ohne der Mittelpunkt oder eine Besonderheit zu sein?“ Foto: Kyle Nieber/Unsplash
  • Das klingt doch gut – verschiedene Kulturen, verschiedene Erziehungsstile...  

    Ja, aber leider scheinen immer wieder hartnäckige Machtstrukturen durch. Denn andere Vorstellungen von „Kindeswohl“, die nicht unserem westlichen Ideal von Kindzentriertheit entsprechen, werden als Defizit bewertet. Eine Mutter, die ihr Kind nicht ständig visuell begleitet, nicht ständig ein Lob ausspricht oder ihm andauernde Aufmerksamkeit schenkt, wird als ignorant oder desinteressiert abgestempelt und bei uns dann auch dementsprechend behandelt. 

    In der westlichen Mittelschichtkultur ist so z.B. eine dialogische Exklusivität, eine Interaktion, die in Eins-zu-Eins-Begegnungen stattfindet, normal und erwünscht. Ein großer Teil der Weltbevölkerung zieht aber etwas anderes vor. Da kommunizieren viele Menschen gleichzeitig miteinander, man nimmt gleichzeitig an verschiedenen Gesprächsstrukturen teil, man hört vielen Menschen gleichzeitig zu, man beobachtet. Es ist ein sehr viel reicheres Umfeld.
     

    „Eine Mutter, die ihr Kind nicht ständig visuell begleitet oder ihm andauernde Aufmerksamkeit schenkt, wird als ignorant oder desinteressiert abgestempelt.“


    Wenn man das jetzt ein wenig karikieren möchte, dann könnte man sagen, die Kinder hier in der westlichen Welt mit unserer kindzentrierten Erziehung, wachsen in Isolation und Reizarmut auf, verglichen mit z.B. Kindern in einem indischen Dorf. In wieder anderen Kulturen steht nicht die verbale Interaktion im Mittelpunkt, sondern die körperliche Kommunikation. Da wird sehr vieles im Körperkontakt ausgedrückt und der Blickkontakt ist vielleicht marginal, tabuisiert und/oder hierarchisiert. Das sind also Dinge, die man nicht universell festsetzen kann. Aber genau das wird heute gemacht – wir meinen, dass unsere Vorstellung von Kindererziehung, also unsere Kindzentriertheit, die einzig wahre, richtige und gültige ist.

    Lassen sich bereits konkrete Nachteile der Kindzentrierung ausmachen?

    Diese Frage lässt sich am besten mit einem Beispiel aus meiner Forschung erklären. Wir haben in einer Untersuchung vier- bis sechsjährige Kinder in Dreiergruppen eingeteilt. Die Kinder waren sich nicht fremd und kannten bzw. mochten sich untereinander. Dann hat jedes Kind jeweils einige Puzzleteile von uns erhalten. Um das Puzzle fertigzustellen, sollten die Kinder in der Kleingruppe kooperieren und die einzelnen unfertigen Teil-Puzzles zu einem großen, gemeinsamen, ganzen Puzzle zusammenfügen. Das Ergebnis: Ungefähr 80 Prozent der Kinder war nicht in der Lage dazu. Einige Kinder haben zwar die eigenen Puzzleteile zusammengesteckt, dann aber sofort die Versuchsleitung hergerufen und gesagt: „Ich bin fertig“. Andere haben sich gegenseitig angeguckt und nach einiger Zeit etwas ganz anderes gemacht, ohne das Puzzle fertigzustellen. Andere wollten das Puzzle unbedingt allein fertigstellen und die Hilfestellungen der Versuchsleitung mit dem Satz „Ich kann das alleine“, zurückgewiesen. Die Kinder hatten keine Strategie, wie man kooperieren kann.   

    „Und es gibt viele unterschiedliche Wege, Kinder darin zu unterstützen, kompetente und zufriedene Erwachsene zu werden.“

    Eine mir bekannte Studentin hat dieselbe Untersuchung in Ost-Jerusalem gemacht. Einige dieser Kinder haben dieselbe Aufgabe nonverbal gelöst, andere haben während der Aufgabe miteinander geredet – aber keines der Kinder hat die Versuchsleitung hinzugeholt. Erstaunlicherweise hatten alle Kinder das Puzzle gemeinsam im Nullkommanichts zusammengestellt und das vollständig und ganz. Es gibt sehr viele ähnliche Studien, die solche Ergebnisse erzielen. In den USA z.B. hat die Forscherin Barbara Rogoff etliche solche Untersuchungen mit verschiedenen Kindergruppen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten durchgeführt. 

  • Kritik von Heidi Keller: Andere Ansichten und Vorstellungen von „Kindeswohl“, welche nicht unserem Ideal entsprechen, werden als Defizit betrachtet. Foto: Anna Shvets/Baby
  • Wir erziehen unsere Kinder also zu unkooperativen und egoistischen Menschen – total falsch halt, oder?

    Falsch, was heißt hier falsch. Unsere westliche Gesellschaft ist eben so, wir haben unsere Karriere und unsere Ziele im Blick, wir gehen mit erhobenen Ellenbogen durch die Welt und schauen nicht rechts, nicht links. Dieses Verhalten wird unseren Kindern früh beigebracht. Natürlich kann das auch Vorteile haben, besonders in einer auf Konkurrenz ausgelegten Gesellschaft. Was wir nicht tun dürfen, ist, andere Erziehungskulturen abzuwerten. Aber genau das machen wir, obwohl 95 Prozent der Weltbevölkerung das Aufwachsen von Kindern gänzlich anders gestalten als wir, die westliche Mittelschicht. Und mir stellt sich da die Frage: Was gibt uns das Recht, unsere Meinung für die allein richtige zu halten? 

    Tragen unsere westlichen Betreuungsstätten wie z.B. Kitas auch zu diesem unkooperativen Verhalten bei? 

    Auch in der Kita wird der Fokus auf das einzelne Kind gelegt. Bei dieser Untersuchung, die ich vorher kurz beschrieben habe, konnte man wunderbar sehen, wir der Fokus von der Kindergruppe weggegangen ist und sich auf die Zweierbeziehung zwischen Betreuerin und Kind übertragen hat. Außerdem muss man dazu sagen, dass der Betreuungsschlüssel das Qualitätsmerkmal unserer Kitas ist. Westliche Mittelstandsfamilien wollen, dass möglichst viele Erzieherinnen in der Kita arbeiten, damit diese sich auch gut mit dem einzelnen Kind beschäftigen können. Aber ich bin der Meinung, dass Kinder lieber etwas mit anderen Kindern gemeinsam machen. Einmal hab’ ich ein Kind gefragt: „Und, wann ist es in der Kita am schönsten?“ Und das hat mir dann geantwortet: „Wenn viele Kinder da sind und wenig Erzieher.“ Und ja, Kinder imitieren sich, schauen sich gegenseitig an und wollen auch so sein wie andere Kinder. Die wollen nicht immer besonders sein oder immer im Mittelpunkt stehen. 
     

    „Was gibt uns das Recht, unsere Meinung für die allein richtige zu halten?  


    Wir kennen nun einige Nachteile, die die Kindzentriertheit mit sich bringt. Aber was folgt auf diese kindzentrierte Elternschaft? Wie werden wir in Zukunft unsere Kinder erziehen?  

    Ja, das wüsste ich auch gern. Das Analysieren von soziologischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen ist nicht mein Spezialgebiet, aber ich denke, dass man Erziehungsstile mit Ideologien vergleichen kann. Beide haben einen zeitlichen Rahmen – ein Stil folgt auf den anderen und wird dann meist durch das Konträre wieder abgelöst. Auf die Kindzentriertheit könnte also die Mütterzentriertheit folgen. Denn der gesellschaftliche Druck auf die „gute Mutter im bindungsorientierten Sinne“, wird immer größer. Auch die Bewertungen von anderen sind überall zu spüren. Isabelle Roskam und ihre Forschungsgruppe in Belgien spricht bereits von dem Parental-Burnout-Syndrom. Dieses Syndrom betriff in erster Linie Mütter und hat nichts mit dem Arbeitsburnout zu tun, sondern lässt sich über die Überforderung durch Erwartungen an adäquates oder „gutes mütterliches Verhalten“ definieren. Die Forschungsgruppe hat Fälle dokumentiert, in denen Frauen zusammenbrechen und in psychiatrischer Behandlung landen, und warum? Weil sie sich vollkommen auf das Kind konzentrieren, sich selbst als Person völlig vergessen oder bereits aufgegeben haben und dabei immer noch den Erwartungen der Gesellschaft gerecht werden wollen. Und aufgrund dieser Forschungen denke ich, dass die Kindzentriertheit nicht mehr lange als „Ideal“ fungieren kann. 

  • Heidi Keller: „In vielen Kulturen werden Kinder fast ständig und den ganzen Tag über am Körper getragen, da besteht viel Hautkontakt und es finden körperliche Regulationen statt.“ Foto: Annie Spratt/Unsplash
  • Was können wir von anderen Kulturen lernen? 

    Ich mag es nicht so gerne, wenn man das sagt, „von anderen Kulturen lernen“. Wir sollten kulturelle Praktiken nicht blind imitieren. Ein Beispiel: In vielen Kulturen werden Kinder fast ständig und den ganzen Tag über am Körper getragen, da besteht viel Hautkontakt und es finden körperliche Regulationen statt. Unsere hochentwickelten Hightech-Tragetücher haben nichts mehr mit diesem direkten Kontakt zu tun – Hüft- und Schulterpolster für die tragende Person, gepolsterter Stoff für das Kind und ganz viel Schnickschnack wie Zurrgurte, die man einstellen kann und Reißverschlüsse zum Verstauen von Dingen. Ich sage nicht, dass man diese Tücher nicht nutzen sollte, aber man soll dann die Ideologie der Bedeutung des Körperkontaktes weg lassen. Ich finde es wichtig, andere Praktiken nicht abzuwerten oder Anderes als „falsch“ abzustempeln. Man muss sich immer klar machen, dass Vielfalt die Essenz des Lebens ist. Und es gibt viele unterschiedliche Wege, Kinder darin zu unterstützen, kompetente und zufriedene Erwachsene zu werden.

  • Die Kindzentriertheit - ein Nachspann

    Die italienische Verfassung setzt im Art. 30, Abs. 1 fest: „Es ist Pflicht und Recht der Eltern, die Kinder (...) zu erhalten, auszubilden und zu erziehen“. Dieses Recht hat einen großen Wert und kann als hohes Gut einer Gesellschaft angesehen werden, denn die Erziehung der Kinder lag nicht immer in den Händen der Eltern, sondern phasenweise auch in den Händen des Staates. 

    Dass die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes im Zentrum einer Familie stehen, kann als ein relativ junges Phänomen beschrieben werden. Erst in der Zeit der Aufklärung, als sich das Bürgertum vom Adel und den Unterschichtsgruppen abzugrenzen versuchte, entstand das Ideal einer kindzentrierten Erziehung. Kinder wurden nicht wie bisher in der Geschichte über Mitarbeit sozialisiert, sondern fortan gezielt gefördert und ausgebildet. Der Vater, als das Oberhaupt der Familie, hatte die Autorität inne. Die Mutter war für die Erziehung der Kinder zuständig. Später stieg das nationale Interesse an Kindern stetig an. Ob künftige Arbeitskräfte, Familienvorstände, Ehefrauen, Mütter, Soldaten – Kinder wurden von privaten zu öffentlichen Gütern. Zunehmend entstanden auch kindzentrierte Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Jugendämter und Kinderheime.

    Das darauffolgende 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Kindes: Neben den Menschenrechten wurden gesonderte Kinderrechte ausgearbeitet, in den 1970er-Jahren setzt sich die Kinzentrierung in der Familie und in den Institutionen durch. Das unschuldige Kind wird das Zentrum, ist der Inbegriff höchster Werte und hat ein besonderes Emotionalisierungs-, Anklage- und Aktivierungspotenzial. Bis heute steht in einer kindzentrierten Familie das gemeinsame Kind mit seinen Bedürfnisse, Ansprüchen und Wünschen im Mittelpunkt. Eltern sind für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes zuständig. Dabei ist eine frühe emotionale Bindung mit dem Kind wichtig, damit im späteren Entwicklungsverlauf keine (Persönlichkeits-)Störungen auf eine unstabile Bindung zurückgeführt werden können. Allerdings führt eine zunehmende Rückverlagerung gesellschaftspolitischer Aufgaben in die Familie zu steigendem Druck, wachsenden Konflikten und einer Politisierung von Kindheit und Elternschaft. 

    Überfordernde Ideale, welche Menschen von der Gesellschaft vermittelt bekommen, können Elternschaft zu einer krisenhafte Erfahrung werden lassen, auch weil unzureichende Rahmenbedingungen herrschen. Auch wenn sich das Modell Familie weiterentwickelt und verändert, bleibt die Mutter jene Bindungsperson, die für die Bewältigung des Kinderalltags zuständig ist.

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Salto User
Oliver Hopfgartner So., 02.06.2024 - 08:20

Es ist völlig klar, dass kindliche Autonomie nur in einem gewissen Rahmen stattfinden kann. Meiner Meinung nach ist das freie Spiel die praktikabelste Form kindlicher Autonomie. Das steht im Widerspruch zum durchorganisierten, moderierten Kinderstundenplan unserer westlichen Welt, wo das Kind an fast jedem Nachmittag entweder etwas für die Schule tun muss oder (je nach Interessen der Eltern, die ihren verlorenen Träumen nachjagen) zum Sporttraining oder in die Musikschule gebracht und wieder abgeholt werden. In den USA wird dieses Modell an die Spitze getrieben, wo selbst Kleinkinder von 1-2 Jahren einen Stundenplan mit festgelegten Zeitslots für Jause, Spielzeit, Besuch bei Verwandten etc. haben.
Wer heute seine Kinder nach dem Mittagessen bei der Haustüre rausschickt und sie im Dorf unterwegs sein lässt, gilt heute schnell als jemand, der seine Kinder vernachlässigt.

Ein weiterer interessanter Punkt ist die Frage nach Gruppen mit weniger Betreuern und mehr Kindern. Ich finde das ist grundsätzlich eine gute Idee, allerdings ist da immer die Frage, was für Gruppe es ist, da es positive und negative Gruppendynamiken gibt. Wichtig ist dabei v.a., mehrere Alterskategorien dabei sind. Unsere beiden Kinder waren z.B. in unterschiedlichen KiTas: In einer KiTa waren die Kinder alle sehr schnell "sauber", in der anderen gingen teilweise Kinder noch mit Windeln in den Kindergarten. Wie Frau Keller richtig sagt, schauen sich Kinder viel voneinander ab - im Positiven wie im Negativen.

Abschließend würde mich noch interessieren, ob es bei dem Puzzle-Experiment Unterschiede zwischen Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern gab. Meine Hypothese ist, dass Kinder mit Geschwistern kooperationsfähiger sind. Wir haben im Westen relativ viele Einzelkinder, ich denke das könnte da auch eine Rolle spielen.

So., 02.06.2024 - 08:20 Permalink
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Peter Gasser So., 02.06.2024 - 10:15

Präzise und klar.
Sachlich und kritisch.

Interessant wäre auch die Beschreibung des “Söhnezentrismus” wie in unserer früheren Gesellschaft und heute im strengen Islam: vielleicht könnte da ein 2. Teil nachfolgen, auch wenn das Thema gesellschaftlich & politisch heikel ist.

Auf jeden Fall ein Gewinn zu lesen.
Wissenschaft und Humanismus gepaart und frei von Urteilen.

(Und eine neutrale Interviewerin, was auch auf Salto nicht immer so ist)

So., 02.06.2024 - 10:15 Permalink
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Josef Fulterer Mo., 03.06.2024 - 06:27

"Viele Kinder + wenig Erzieher," (die nur bei ungerechten Auseinandersetzungen eingreifen,) wären sicher die beste Form um aus Kinder Gemeinschafts-orientierte + tolerante Bürger zu formen.
... auch Hubschrauber-Eltern verziehen ihre Kinder zu Paschas oder überängstlichen Mitbürgern.

Mo., 03.06.2024 - 06:27 Permalink
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Martin Sitzmann Mo., 03.06.2024 - 07:02

Ein sehr interessantes Interview!
Ein Aspekt scheint mir bedeutsam: Je mehr Kinder in einer Familie, in einer Gesellschaft da sind, umso "natürlicher" erfolgt Erziehung (durch andere Kinder und durch die Geschwister unterschiedlichen Alters sowie durch sparsame, aber sehr klare und konsequente Intervention der erziehenden Erwachsenen, seien es Eltern oder pädagogische Fachkräfte in Kitas, Kindergarten und Schule). Das hat nicht nur mit den vielen Einzelkindern in unserer Gesellschaft zu tun, sondern - gewissermaßen als Folge davon - mit den insgesamt immer weniger Kindern. Das Kind, v.a. das Einzelkind, ist zum Lebensprojekt der Eltern geworden, von dem alles abhängt. Die Folgen: Helikoptereltern, überbordender Individualismus, Überforderung der Kinder durch zu viele, auch nicht altersgemäße Entscheidungsmöglichkeiten, Vernachlässigung des Gemeinschaftssinnes, Förderung des "Prinzen- und Prinzessinnentums".

Mo., 03.06.2024 - 07:02 Permalink