Gesellschaft | Tierrechte

Wieviel Leid darf in einer Mahlzeit stecken?

Zweiter Teil des Artikels.

Vor hundert Jahren sah die Welt ganz anders aus, nicht zuletzt, was die Ernährung betrifft. Noch hier in Südtirol können manche ältere Bauern davon berichten: Die Hauptkost der Menschen bestand aus Kartoffeln, das Elend und die Not der kinderreichen Familien auf dem Land war erdrückend und Fleisch war ein Luxus, den sich nur die Reichen leisten konnten. Für den Armen gab es das nur alle heiligen Zeiten hin und wieder, wenn überhaupt. Massentierhaltung gab es noch nicht. Was wir heute „Bio" nennen und als etwas Besonderes handeln und kaufen, war damals das einzig existente Lebensmittel. Eine gute Zeit für Tiere. Zugegeben, die Schlachtmethoden waren nicht sehr schonend, damals hatte man nur ein Messer, um so was zu erledigen. Dafür durfte sich das Tier bis zum letzten Moment wenigstens eines abwechslungsreichen, würdevollen und einigermaßen freien Lebens erfreuen.

Je besser es den Menschen in unseren Breitengraden ging, desto größer wurde das Leiden der Tiere. Seit dem Boom der Sechziger mangelte es niemandem mehr an Geld für tierische Lebensmittel. Die enorme Nachfrage musste irgendwie bedient werden, Massentierhaltung stellte sich als ökonomisch erfolgreiches Konzept heraus, um das Problem zu lösen. Die Menschen fraßen und fraßen – 40% der aufgenommenen Kalorien eines Deutschen stammen mittlerweile aus Fleischprodukten. Was hinter den Kulissen abläuft, um dieses große Fressen zu ermöglichen, wird schön unter Verschluss gehalten. Was für eine gewaltige Maschinerie da so nebenher am Laufen ist, um unseren westlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten, ignoriert man lieber. Ansonsten müsste man seine Gewohnheiten ändern und jeder weiß, wie lästig das ist.

Die Forderung nach artgerechter Tierhaltung und gewissen Tierrechten ist keineswegs neu. Peter Singers epochales Buch "Animal Liberation" liegt schon fast 40 Jahre zurück (Erscheinungsjahr 1975). Darin prägt er den Begriff Speziesismus und bezeichnet damit die Haltung des Menschen, gegenüber dem Leiden anderer Lebewesen gleichgültig zu sein. Singer vergleicht den Speziesismus mit Rassismus und Sexismus. Auch hier handelt es sich um Anschauungen, die Andersartigen ihre Rechte absprechen oder sie zumindest stark darin einschränken. Singer warnt vor dem Schritt, die Tiere dem Menschen rechtlich vollkommen gleichzusetzen. Auch müsse man unter den Tieren selbst unterscheiden: Das Leben einer Heuschrecke könne bestimmt nicht so viel wert sein wie das eines Hundes. Dennoch stellt sich nach Singer die entscheidende Frage: Ist das Leben eines Schweines oder Rindes so wenig wert, dass es das ganze Leben in einem Käfig eingesperrt verbringen muss, hin und wieder qualvollen Eingriffen unterzogen und am Ende zusammen mit seinen Nachbarn in Massen geschlachtet wird, nur damit wir unser Steak etwas billiger bekommen? Ist es so wenig wert, dass wir es vollkommen dem menschlichen Nutzen unterwerfen und ihm jegliche Empathie verwehren dürfen?

Was man nicht mit eigenen Augen sieht, dafür ist es immer schwer, Empathie aufzubringen. Dem Menschen fehlt es an ausreichender Fantasie dazu. Es gibt genug Leute, die Vegetarismus als radikalen Gutmenschenschwachsinn abtun und jeden zweiten Tag bei MacDonalds essen, selbst aber nie in der Lage waeren, ein Tier zu schlachten. Seit Singers "Animal Liberation" ist das Problem so langsam ins Bewusstsein der Menschen gekommen. Und klar: Jeder kann zu einer Besserung beitragen, indem er an seiner eigenen Ernährung arbeitet - wie lange schon hat man diesen Satz gehört. Wenn man aber mit der steigenden Zahl der Tierversuche, der Intensivtierhaltungen und überfischten Meeresregionen konfrontiert wird, weiß man, dass das alles noch zu wenig war. Jetzt liegt es am Staat zu intervenieren, Massentierhaltung abzuschaffen, ökologische Produkte zu subventionieren und zumindest einigen Tieren gewisse Grundrechte zuzusprechen. Wie genau diese aussehen sollen, gehört in eine andere Debatte. Ernährungswissenschaftler empfehlen lediglich ein Viertel unseres heutigen Fleischkonsums. Die höheren Preise infolge einer Abschaffung der Massentierhaltung würden die Nachfrage automatisch in diese Richtung lenken.

Tierleid beklagen darf jeder, das gehört zum Menschlichsein dazu, aber spätestens, wenn solche Forderungen lautwerden, werden sich die Proteststimmen erheben: Interventionismus, militantes Gutmenschentum, Ökototalitarismus! Diese konservativen Stimmen gleichen sehr den Stimmen des 19. Jahrhunderts, die die Abschaffung der Sklaverei unterbinden wollten, oder jenen, die sich bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts einer Gleichberechtigung der Schwarzen entgegenstellten. Trotz des verschiedenen Stellenwerts menschlichen und tierischen Lebens: Eine starke Analogie zwischen Speziesismus und Rassismus ist da, wie Singer behauptet. Manche Aktivisten taten sogar den Schritt, die aktuellen Zustände in der Massentierhaltung mit dem Holocaust zu vergleichen: "Der Holocaust auf Ihrem Teller" lautete eine Kampagne der Tierschutzorganisation Peta.  In den Augen des Bundesverfassungsgericht ging das zu weit, und die Kampagne wurde verboten.

Fakt ist: Ohne "militantes Gutmenschentum" und ohne umstrittene Reformen wären Sklaverei, institutionalisierter Rassismus und Apartheid-Systeme immer noch Gegenwart. Genauso wie wir uns heute unsere Umgebung nicht mehr unter solchen Vorzeichen vorstellen können, genauso werden in einigen Jahrzehnten vielleicht die heutigen Zustände der industriellen Nutztierhaltung unvorstellbar geworden sein. Und vielleicht ist ein Tierleben wie das der sechs Hühner am Ritten dann die Normalität. Man darf es zumindest hoffen.

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Oskar Egger Mi., 06.08.2014 - 10:36

Auch ich konsumiere Fleisch und Fisch in genügsamen Mengen. Tatsache ist, dass ich ohne Tiere zu töten und zu quälen leben kann, wahrscheinlich sogar besser.

Mi., 06.08.2014 - 10:36 Permalink