Es gibt Dinge, von denen weiß man nicht genau, ob sie existieren oder ins Reich der Mythen gehören: Der Heilige Gral. Das Grabtuch Christi. Die rote Linie des Arno Kompatscher. Noch vor einem halben Jahr ließ der Landeshauptmann wissen, er werde wachsam sein, was den italienischen Koalitionspartner angeht: „Es gibt eine klare rote Linie. Wenn das in die falsche Richtung geht, wird die Reißleine gezogen“, zeigte er sich etwa im Münchener Merkur entschlossen. Seither fragt sich Südtirol, wie diese rote Linie aussieht. Als nun ein Vertreter der „No excuses“-Bewegung in Erfahrung bringen wollte, ob denn vielleicht die rechtsradikalen Entgleisungen in der Jugendorganisation der Fratelli d‘Italia diese ominöse Grenzüberschreitung bedeuten könnten, machte er eine wundersame Entdeckung: Die rote Linie des Landeshauptmanns besteht offenbar darin, nach der roten Linie (RL) gefragt zu werden! Ganz schön meta: Anfangs noch betont gelassen, drohte die bloße Erwähnung der RL quasi in der Manier von religiösen Wundern eine ebensolche auf der Stirn Kompatschers erscheinen zu lassen. Und damit nicht genug: Sichtlich angefasst bemühte sich der LH daraufhin, eine weitere Manifestierung der RL herbeizuführen, indem er sie formelhaft beschwor: „Diese rote Linie ist da [zeigt auf Palais Widmann], die ist jeden Tag da. […] Da steht die Regenbogenflagge drinnen.“ Freilich hat auch der Regenbogen eine rote Linie oder besser, einen roten Streifen, aber den hat der Fragesteller nicht gemeint, und so bleibt weiterhin unklar, was man sich denn unter der RL, deren Überschreiten eine Aufkündigung der Koalition mit den Fratelli mit sich ziehen würde, vorstellen darf. Sie bleibt eine Floskel, eine Fata Morgana, eine vage Beschwichtigung. Warten auf die rote Linie ist wie Warten auf Godot: Auch sie wird niemals kommen, weil sie nämlich das Projekt „Autonomie“, das als Projekt „Kompatschers Vermächtnis“ Priorität über allem hat, zunichtemachen würde. Dass der LH sich auf sie berufen hat, wird ihn noch einige Male schlecht aussehen lassen, weil der betreffende Koalitionspartner eher salopp mit dem Warnruf umgeht.
Allerdings, auch das muss man sagen, wenn sich Fratello Marco Galateo weiterhin so innig mit den geräucherten Hinterteilen von bundesdeutschen und niederländischen Schweinen beschäftigt, geht zumindest von ihm keine große Gefahr fürs Kompatschers Supermann-Mission aus. Die einzige rote Linie, die ihn zu interessieren scheint, ist die der Maserung des Specks, dem er plötzlich in geradezu zärtlicher Verehrung zugetan ist.
Für den Speck reiste er selbstlos nach New York, für den Speck pfiff er auf die Landtagsetikette und machte die Landhausbar zu einem Pop-up-Buschenschank, für den Speck ergriff er flammend Partei gegen Brigitte Foppa, die beide Aktionen nicht ganz so prickelnd fand. „Evidentemente i Verdi non hanno a cuore i nostri prodotti locali e le nostre aziende. Chissà che disastri avrebbero fatto al governo della Provincia” beschwerte er sich einem Post auf Facebook über die grüne Geringschätzung seines Speck-Engagements, und tatsächlich: Man darf vermuten, dass bei einem grünen Wirtschaftslandesrat andere Themen als der von der Bevölkerung in Umfragen zu brennenden Anliegen merkwürdigerweise kaum thematisierte Räucherschinken ganz oben auf der Agenda stünden: Che disastro fürwahr! Wie soll man da noch morgens in den Speckio schauen? Folglich kommt auch die Bilanz seiner ersten hundert Tage Landtagsarbeit in den Dolomiten nicht ohne das S-Wort aus: „[…] wir konnten Südtiroler Produkte bei großen Veranstaltungen unterbringen, wie den Speck in New York.“ Um zu verhindern, dass die grüne Speck-Gleichgültigkeit, ja am End sogar -Abneigung im Landtag ähnlich dem Gender- und Klimawahn um sich greift, könnte Galateo ja einen Antrag stellen, dass zukünftig jede*r Abgeordnete bei Amtsantritt einen Eid auf die Hamme ablegen muss: Rechte Hand nach oben, linke Hand auf die Schwarte, „Ich, [Name], schwöre feierlich, dass ich das Amt des Landtagsabgeordneten getreulich ausführen und den „Südtiroler“ Speck nach besten Kräften wahren, schützen und verteidigen werde.“ Fast könnte man denken, jemand habe Galateo auf Schlegel angefixt („Fai Speck! È figo!“), um andere Themen und damit die rote Linie behutsam aus seiner Reichweite zu schaffen. Uns soll es Wurst sein.