Film | DOC DAY

„Die Kinder sind unsere Favoriten“

Interview mit der Wiener Dokumentar-Regisseurin Ruth Beckermann, deren Blick in eine Grundschule im Brennpunktviertel Favoriten berührt und alarmiert. Heute im Filmclub Bozen, in Anwesenheit des Kameramannes, Johannes Hammel bei "DOC DAY".
Ruth Beckermann
Foto: Angela Althaler, a+o
  • Frau Beckermann, ein wenig wirkt es, als hätten Sie nach „Mutzenbacher“ einen Ausgleich gebraucht. Nach einer Auseinandersetzung mit einem 100 Jahre alten Text, blicken Sie in Richtung Zukunft. War das eher zufällig oder steckt da auch Absicht dahinter?

     

    Ruth Beckermann: Rückblickend wirkt es so, aber es war keine Absicht, mich jetzt auf andere Art mit Kindern zu beschäftigen. Ich habe „Mutzenbacher“ auch eher als ein Männerprojekt gesehen und nicht als eine Beschäftigung mit wirklichen Kindern, realen Kindern, sondern mit einer Fiktion eines Kindes. Im Fall von „Favoriten“ war es ganz im Gegenteil so, dass mich interessiert hat, wie Kinder heute leben, Kinder in dieser Altersgruppe der Volksschulzeit. Die Idee war also, mir die Kinder in einer modernen Großstadt heute anzuschauen, zu filmen und zu zeigen.

     

    Der Arbeitstitel für den Film war "Die Kinder von Wien", der neue Titel mit Favoriten, engt es doch auf ein Bezirk ein. Hat man sich den Bezirk aus speziellen Gründen vorgenommen?

     

    Der Titel ist ja zweideutig, er heißt ja auch „Favoriten“: Die Kinder sind unsere Favoriten. Der Bezirk hat sich dadurch ergeben, dass wir uns einige Schulen angeschaut haben in verschiedenen Bezirken in Wien, an denen aber eine ganz ähnliche oder dieselbe Bevölkerungsstruktur lernt. Das heißt, es gibt viele Schulen in Wien, wo fast alle Kinder einen Migrationshintergrund haben. Außerhalb vom Gürtel würde ich sagen, ist das in den meisten Bezirken so. Wir haben diese Schule gewählt, weil uns die Lehrerin so gut gefallen hat und weil der Direktor von dem Projekt sehr angetan war und auch den Eltern davon erzählt hat. Ausschlaggebend war damit  Ilkay Idiskut, würde ich sagen. Auch, dass sie, als wir recherchierten gerade eine erste Klasse hatte und dass diese Klasse noch drei Jahre bei der Lehrerin bleiben würde.

  • (c) Filmclub Bozen

  • Man hat über diesen Zeitraum an 45 Tagen Aufnahmen gemacht. Schule ist für die Schülerinnen und Schüler zu einem großen Teil Alltag. Wenn da auf einmal eine Kamera im Raum ist, wie lange hat es gedauert, bis man zu einem normalen Unterricht übergehen konnte?

     

    Das war nach ein, zwei Tagen erledigt. Die Kinder haben sich natürlich für die Technik besonders interessiert und mein Kameramann und der Toningenieur haben ihnen alles erklärt und gezeigt. Aber das war es dann gegessen. Man sieht ja, dass die Kinder – das ist natürlich erstaunlich, aber ich glaube, in dem Alter ist das noch so – sich gar nicht mehr um uns gekümmert haben. Sie haben sich immer gefreut, wenn wir gekommen sind, natürlich, weil das war schon anderes als üblich, aber der Unterricht ist ganz normal abgelaufen. Die zwei Personen, die da gedreht haben, haben sich möglichst unauffällig verhalten und in einer engen Klasse war es auch für die Kamera gar nicht leicht, sich zu bewegen. Es ist alles mit Handkamera, sehr nah an den Kindern aufgenommen worden. Aber diese hat das gar nicht gestört und die Lehrerin hat auch wunderbar mitgearbeitet.

     

    Wenn man mit der Handkamera arbeitet, wie sehr hat das den Film strukturell geprägt?

     

    Heutzutage arbeitet man fast immer mit digitalen Kameras. Ob diese jetzt schwerer oder weniger schwer sind, ist eigentlich nicht das Hauptthema. Einen Unterschied macht es, wenn man mit einem Stativ arbeitet, oder mit einer Steadicam. Aber wozu? Eine Schulklasse ist relativ eng und sich mit einer Steadicam da durchzuzwängen ist eher unnötig, unmöglich. Mein Kameramann, Johannes Hamel, der auch nach Bozen kommt, macht sehr gute Handkamera und Handkamera macht in dem Fall absolut Sinn. Ein Film auf einem Stativ, das wären dann alles nur Zoom- und Teleeinstellungen. Wie kommt man sonst von einem Stativ zu den Kindern, die weiter hinten sitzen? Das ist für mich keine Frage gewesen.

     

    Mir stellt sich auch die Frage nach dem aktuellen Sparkurs der Österreichischen Regierung. Es wird im Film bereits angesprochen, dass viel gestrichen wird und dieser Trend wird sich jetzt wohl eher fortsetzen. Wie besorgt schauen Sie da auf die Bildung kommender Generation?

     

    Wir waren schon während der drei Jahre, die wir gearbeitet haben, sehr wütend auf das System. Man sieht, dass Ilkay so gut wie immer allein vor der Klasse steht. Es herrscht ein riesiger Lehrermangel. Die Deutschförderung ist letztklassig. Das müsste natürlich schon ab dem Alter von drei Jahren beginnen, damit die Kinder mit sechs Jahren fit in der Unterrichtssprache sind, wenn sie in die Schule kommen. Die Gesamtschule – also, dass die Kinder bis 14 zusammen in eine Schule gehen – wird es in Österreich wahrscheinlich nie geben, obwohl es sie fast überall in Europa gibt. Das alles liegt sehr im Argen. Wir haben natürlich auf eine Regierung gehofft, in der Bildung – wahrscheinlich vor allem durch die Neos – doch im Zentrum stehen würde. Das wird es jetzt nicht geben. In jeder Weise ist diese geplante neue Regierung grauenvoll und für diese Kinder wird sie natürlich nichts übrig haben.

     

    Sie haben es davor schon gesagt „Favoriten“ da gibt es auch eine Zweideutigkeit. Wie sehr ist dadurch die Chancengleichheit im Zugang zu Bildung untergraben?

     

    Mit einigen Schwierigkeiten sind sechs Kinder doch ins Gymnasium gekommen und haben das erste Jahr auch gut gemeistert. Ich denke,  mit großen Hürden werden es einige schaffen, sozial aufzusteigen. Aber ich denke, dieser Regierung ist das auch gar nicht recht, sie wollen ja keine sogenannten Ausländer – und wenn doch, dann sollen sie dort bleiben, wo sie sind, auf der Baustelle oder beim Putzen. Diese Menschen interessieren diese Regierung gar nicht. Natürlich wird auch die Gesellschaft die Folgen einer schlechten Bildungspolitik spüren, das tun wir jetzt schon. Das kostet das Arbeitsamt oder die Polizei am Ende mehr Geld, wenn diese jungen Menschen keine Chancen für sich sehen und frustriert sind. Soviel ist für mich klar.

  • Ilkay Idiskut: Es reicht ein Blick in den Trailer von „Favoriten“ zu werfen, um vom Enthusiasmus der Lehrerin überzeugt zu werden. Foto: Ruth Beckermann Filmproduktion

    Wenn wir vom System aufs Individuum schauen, welchen Unterschied kann für Sie eine wirklich gute und engagierte Lehrperson machen, wenn das System darum herum nicht mitspielt?

     

    Das zeigt der Film, an einem sehr positivem Beispiel. Ich hatte auch eine gute Lehrerin im Gymnasium, aber das ist lange her. Das war eine ganz andere Gesellschaft, in ihrer Zusammensetzung sehr homogen und es konnten alle gut Deutsch. Das kann man mit der Gegenwart so nicht vergleichen. Ich finde, Ilka ist eine wirklich großartige Lehrerin und eine, die selbst Migrationshintergrund hat. Man kann hoffen, dass es viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Lehrberuf zieht, weil sie da viel mitbringen: Nicht nur die Sprache, eine zweite Sprache um damit mit einigen Müttern, die oft auch noch viel schlechter Deutsch können als die Kinder, kommunizieren zu können, sondern vor allem auch Erfahrungen, die diese Kinder ja machen.

     

    2019 sind Sie zur Mitgliedschaft in der Academy of Motion Pictures eingeladen worden. Ich wollte Sie fragen, ob Sie den Anwärter um den Auslandsoscar, „Vermiglio“ von der in Bozen geborenen Regisseurin Maura del Perro, schon gesehen haben…

     

    Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Ich weiß auch nicht, ob der Film in die nächste Runde kommt. Wir haben ja schon gewählt, welche Filme nominiert werden sollten. Ich konnte nicht alle Filme sehen. Ich glaube, dass in der Kategorie Internationaler Filmpreis „Emilia Pérez“ gewinnen wird, den ich persönlich nicht so toll finde. Ich finde dagegen den Indischen Beitrag „All We Imagine as Light“ von Payal Kapadia großartig und auch „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ von Mohammad Rasulof sehr gut.

  • Termin

    "Favoriten" wird heute, 16. Jänner um 20 Uhr im Bozner Filmclub im Rahmen der Reihe DOC DAY gezeigt, die gemeinsam von Filmclub und FAS, dem Berufsverband der Südtiroler Filmschaffenden, organisiert wird. Für die Diskussion im Anschluss an die Vorführung ist Kameramann Johannes Hammel im Saal. 
    Der Film läuft daraufhin in verschiedenen Kinos.

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Salto User
Peter Be Do., 16.01.2025 - 14:47

Fand den Film großartig! Ilkay Idiskuts Umgang mit den Kindern war sehr inspirierend, so eine Lehrerin wird sich wohl jeder wünschen, selber gehabt zu haben.
Die neue Regierung wird den eigenen Kindern wohl Privatunterricht gönnen und bei den öffentlichen Schulen weiter sparen und kürzen. Ich bezweifle allerdings, dass gerade die Neos etwas dagegen getan hätten.
Danke fürs Interview!

Do., 16.01.2025 - 14:47 Permalink
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Evelin Grenier Fr., 17.01.2025 - 09:21

An italienischen Schulen darf kein Deutschlehrer unterrichten, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist. Ich glaube nicht, dass das es die optimale Lösung ist, denn ein Nicht-Muttersprachler kann die Schüler oft deutlich stärker motivieren und ihnen das Erlernen einer Fremdsprache deutlich schmackhafter machen.

Fr., 17.01.2025 - 09:21 Permalink
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Evelin Grenier Fr., 17.01.2025 - 10:48

Die Lehrerin Ilkay Idiskut unterrichtet in einer Klasse in der kein einziges Kind Deutsch als Muttersprache hat.

War das nicht doch genau was die Goetheschule machen wollte? Also die Kinder nicht deutscher Muttersprache in einer Klasse tun damit der Unterricht besser klappen kann? So wie bei dieser Lehrerin?

Fr., 17.01.2025 - 10:48 Permalink