Gesellschaft | Italianità

Sinner im Fokus der Identitätsdebatte

Ein Artikel über Sinners Herkunft entfacht eine Debatte über Identität und Staatszugehörigkeit – Landeshauptmann Kompatschers kontert und kritisiert die alten Denkmuster.
Jannik Sinner
Foto: Jannik Sinner/Facebook
  • Der Artikel „Bolzano tra Sinner e il voto“ des bekannten Journalisten und Autors Corrado Augias, der gestern (16. Mai) in der La Repubblica erschienen ist, hat eine landesweite Debatte ausgelöst – nicht nur über Jannik Sinner, die aktuelle Nummer eins der Tenniswelt, sondern auch über die Frage, was „Italienischsein“ heute bedeutet. Im Zentrum der Diskussion stehen dabei die Südtiroler Identität, die sprachliche und kulturelle Vielfalt des Landes und die nationale Zugehörigkeit. In der Folge meldeten sich italienweit nicht nur weitere Journalisten zu Wort, die Partei für Sinner ergriffen haben, sondern auch Landeshauptmann Arno Kompatscher, dessen Replik auf Augias Artikel in der heutigen Ausgabe der Repubblica erschienen ist. 

  • Zur Person

    Corrado Augias (*1935 in Rom) ist ein italienischer Journalist, Autor und TV-Moderator. Er arbeitete u.a. als Auslandskorrespondent in Paris und New York für La Repubblica, L’Espresso und Panorama. Heute betreut er die Leserbrief-Rubrik bei La Repubblica.

  • Augias hat in seinem Kommentar nicht mit Kritik am Tennisspieler Jannik Sinner gespart. Im Fokus: dessen „Andersartigkeit“, die so gar nicht italienisch sei, und sein vermeintlicher Unwille, sich mit dem Staat und dessen Symbolen zu identifizieren. Sinner sei ein „Zufalls-Italiener“, ein „Italiano per caso“, ja sogar ein „italiano riluttante“ – ein widerwilliger Italiener, dessen Vater die Landessprache nur holprig spreche (… che parla „un italiano stentato conoscendone solo poche parole“). Für den 90-jährigen Augias jedenfalls scheint Sinners Identität Ausdruck einer Distanz zu Italien zu sein, die durch seine Herkunft, Sprache und kulturelle Prägung sichtbar werde. Die Kritik geht aber noch weiter: Augias warf Sinner Desinteresse gegenüber den staatlichen Institutionen vor – etwa, weil dieser eine Einladung von Präsident Sergio Mattarella in den Quirinalspalast ausgeschlagen hatte, aber am folgenden Tag beim Skifahren fotografiert wurde. Die Einladung des neu gewählten Papstes Leo XIV. habe er hingegen sehr wohl angenommen. Zum Schluss kam Augias auch auf Sinners Wohnsitz in Monte Carlo zu sprechen – aus steuerlichen Gründen bei Spitzensportlern sehr beliebt. „Ho lasciato per ultima la maggiore ragione di perplessità: il giovane prodigio non paga le tasse, ha la residenza a Montecarlo dove gode di una fiscalità irrisoria“, so Augias.

  • Landeshauptmann Arno Kompatscher: „Die Diversität, in all ihren Formen und Ursprüngen, ist ein Mehrwert.“ Foto: Ivo Corrà
  • Die Antwort aus Südtirol: Kompatscher reagiert

    Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher ließ diese Vorwürfe nicht unkommentiert. In einem offenen Brief, ebenfalls in La Repubblica veröffentlicht, ging er auf Augias’ Aussagen ein und verteidigte nicht nur Sinner, sondern auch die Südtiroler Autonomie und Identität.

    „Die Autonomie“, so Kompatscher, „war eine Erfolgsgeschichte, die der Staat, dessen Bürger wir beide sind – trotz unserer unterschiedlichen Nachnamen –, mit Stolz vertreten sollte.“ Er erinnerte an die komplexe Geschichte Südtirols: von der Annexion 1919 über die Italianisierung während des Faschismus bis hin zur Befriedung nach dem Zweiten Weltkrieg durch weitsichtige Politiker wie Aldo Moro, Bruno Kreisky und Silvius Magnago. Das heutige Autonomiemodell garantiere das Recht aller Bürger, ihre Sprache und Kultur zu bewahren und zu leben. Kompatscher betonte, dass er wie viele andere Südtiroler im Alltag Deutsch spricht und Italienisch erst im Lauf seines Lebens gelernt habe – in der Schule, durch die Schule sowie durch den beruflichen und persönlichen Werdegang. Dennoch leiste er als Landeshauptmann der Autonomen Provinz Bozen einen aktiven Beitrag zum Funktionieren des Staatswesens. Auch die Provinz selbst sei längst vom Empfänger staatlicher Mittel zum Nettozahler geworden – mit ihrem Steuerüberschuss trage sie nun zum Staatshaushalt bei.

     

    „Die Autonomie war eine Erfolgsgeschichte, die der Staat, dessen Bürger wir beide sind – trotz unserer unterschiedlichen Nachnamen –, mit Stolz vertreten sollte.“ 

  • Die zentrale Botschaft Kompatschers lautet dabei, dass Italien kein einheitlicher Block sei, sondern ein reiches Gefüge an Kulturen, Sprachen und Identitäten. „Die Diversität, in all ihren Formen und Ursprüngen, ist ein Mehrwert“, so der Landeshauptmann. Es sei ein gefährliches Missverständnis, nationale Identität an die Sprache oder die Kultur zu knüpfen. Gerade aus derartigen Vorstellungen eines „monolithischen Volkskörpers“ seien im 20. Jahrhundert jene ideologischen Weltanschauungen entstanden, die in die Katastrophe geführt hätten. Er zeigte sich bestürzt darüber, dass die „italianità“ von deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern immer noch angezweifelt werde und sah in der Debatte um Sinner ein Muster: Wer vom traditionellen Narrativ des „typischen Italieners“ abweiche, werde schnell in Frage gestellt. Dabei sei gerade die Fähigkeit Italiens, unterschiedliche Identitäten zu integrieren, eine seiner größten Stärken.