Politik | Kommentar

Wie sozial ist Fortschritt?

Die öffentliche Debatte zur Pride hat mit der konservativen Gangart der CDU in Deutschland eines gemeinsam: die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Mitte.
Pride, Herz Jesu
Foto: Seehauserfoto
  • Die deutsche Familienministerin Karin Prien von der Christlich Demokratischen Union (CDU) ist nicht für polemische Aussagen bekannt. Mit ihrer Kritik an der vorigen Ampel-Regierung aus Grünen, SPD und FDP hat sie trotzdem ins Schwarze getroffen – eine Kritik, die auch in Südtirol zum Nachdenken anregen könnte. 

    Die Politikerin mit jüdischen Wurzeln will „die Gesellschaftspolitik wieder stärker in die Mitte führen“, erklärte sie kürzlich in einem ZEIT-Interview. Damit verfolgt sie ein ähnliches Ziel wie die Soziale Mitte der Südtiroler Volkspartei (SVP) hierzulande. „Wenn soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, dann müssen wir laut sein – mit klarer Stimme und gemeinsam als Team“, erklärt die neue Vorsitzende der Sozialen Mitte, Gabriele Morandell, gegenüber SALTO

     

    Die öffentliche Debatte um die Pride vermittelt auch, wie gespalten die Gesellschaft bei politischen Kernfragen heute ist. 

     

    Bei der deutschen Bundestagswahl im Februar 2025 wurde die Rechts-Außen-Partei AfD mit 20,8 Prozent nach der CDU zweitstärkste Kraft. In Italien regiert die Rechts-Partei Fratelli d’Italia seit Oktober 2022. Sie stellt mit Giorgia Meloni das höchste Amt des Ministerpräsidenten und ist seit Januar 2024 auch Teil der Südtiroler Regierung. Die Suche nach einer gemäßigten, vielleicht sogar vernünftigen gesellschaftlichen Mitte ist daher dringend geboten. 

    In Deutschland will sich Prien deshalb im Gegensatz zur letzten Regierungskoalition nicht auf „identitätspolitisch grundierte Minderheitenthemen“ konzentrieren. Morandell klingt hier schon versöhnlicher, wenn sie davon spricht, bewusst soziale Themen wie Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit und Teilhabe zu vertreten. Doch der Kulturkampf ist nicht nur in Deutschland spürbar. Spätestens seit Jürgen Wirth Anderlan in den Landtag eingezogen ist, dürfte klar sein: Auch Südtirolerinnen und Südtiroler sind von der rasanten gesellschaftlichen Veränderung irritiert. Das ist angesichts der Weltlage und der geschwächten Position Europas nicht überraschend. 

  • Gabriele Morandell: Die neue Vorsitzende der sozialen Mitte will enttäuschte Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen. Foto: privat
  • Wie es so weit kommen konnte, hat sicherlich nicht nur mit Parteiprogrammen zu tun, sondern auch mit der persönlichen Lebenssituation der Wählerinnen und Wähler. Denn nicht jeder und jede kann oder will, beim Einkauf neben dem Preis auch auf Nachhaltigkeit achten. Nicht jede und jeder hat das Interesse, sich über komplizierte Themen wie Migration oder Erderwärmung eine fundierte Meinung zu bilden. Und nicht jede und jeder hat die Chance, auf offene Gemeinschaften zu treffen, die sich über Sexualität und Feminismus austauschen.

     

    Ansonsten laufen wir Gefahr, dass genau diese Selbstbestimmungsrechte bei Sexualität und Geschlechtsidentität beschnitten werden. 

     

    Deshalb bedeutet für mich die erste Pride in Bozen mit Tausenden Menschen nicht nur, dass wir endlich offen über Sexualität und Geschlechtsidentität sprechen können und das auch zeigen. Sondern die öffentliche Debatte um die Veranstaltung vermittelt auch, wie gespalten die Gesellschaft bei politischen Kernfragen heute ist. 

    Wenn wir das ändern wollen, müssen sich gerade Parteien im linken Spektrum an die Nase fassen und sich fragen, wieso ihre Antworten heute nur noch Minderheiten der wahlberechtigten Bevölkerung überzeugen. Sie kann sich nicht auf ihre Erfolge der letzten Jahrzehnte ausruhen – vom Frauenwahlrecht bis zum Kindergeld und strengeren Auflagen beim Naturschutz. Denn gerade weil Fortschritte in der Selbstbestimmung wichtig sind, sollten wir uns für eine ausgewogene Politik einsetzen. Die eben nicht nur individuelle Freiheiten zum Ziel hat, sondern vor allem das Allgemeinwohl der hier lebenden Bevölkerung. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass genau diese Selbstbestimmungsrechte bei Sexualität und Geschlechtsidentität beschnitten werden. 

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Martin Daniel Mo., 21.07.2025 - 19:14

Kompliment Frau Luther, Sie treffen den Kern in Sachen individueller Rechte: Die Nichtdiskriminierung und gerechte Teilhabe mag gerne erlauben, für sich bestimmte Rechte und Freiheiten zu reklamieren, deren Erfüllung über das gesetzliche Maß hinaus bleibt allerdings eingeschränkt durch die gleichberechtigte Freiheit des anderen. Wenn mir jemand sagt, er sei ein Prophet irgendeinder Science-Fiktion-Religion und will als solcher behandelt werden (oder
fühle sich als Tier oder Ding), so sei ihm die Ausübung dieser Meinungs- und Religionsfreiheiten zugestanden. Wenn diese Person mir aber verlangt, dass ich mich in meinem Verhalten danach richte, z.B. ihm huldige, Opfer bringe oder eine bestimmte Sprache verwende, dann wird meine Freiheit die Schranke der seinen darstellen. Es liegt am Empfänger zu entscheiden, ob und wie weit er mitmachen will. Ganz im Sinner der Gendersprachenbefürworter, die stets behaupten, es gäbe diesbezüglich keine Sprachvorschriften. Außer den jenen von Moookuss Söder.

Mo., 21.07.2025 - 19:14 Permalink
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Salto User
Oliver Hopfgartner Mo., 21.07.2025 - 20:55

Abstrakt gesehen ist das Problem folgendes: Früher war klar, dass mitte-links Politik für die Arbeiter gemacht hat. Im Laufe der letzten Jahrzehnte kam es aber zu einer Veränderung der Zielgruppe und mitte-links machte immer mehr Politik für ein städtisches, kosmopolitisches Klientel, das eher akademisch geprägt ist und zu dem auch Besserverdienende gehören.

Dieses Vakuum haben dann die rechtspopulistischen Parteien recht erfolgreich aufgefüllt, was leicht nachvollziehbar ist. Wenn ein Arbeiter sieht, dass er selbst 40h pro Woche reinschepft und beim Kauf der Schulsachen seiner zwei Kinder auf den Preis schauen muss, während ihm sozialdemokratische Politiker erklären, dass es wichtig sei zu gendern und Steuergelder für Fahrradwege in Peru ausgegeben werden, dann darf man sich beim besten Willen nicht wundern, wenn so jemand irgendwann ein Kreuz bei einer Partei macht, die ihm verspricht diese Dinge zu ändern.

Daher ist es völlig richtig, wenn man identitätspolitische Themen weniger in den Vordergrund rückt und sich mehr an den Dingen orientiert, die mehr Bürger betreffen. Vor allem müssen wir auch lernen die Kirche im Dorf zu lassen. Weniger Fokus auf Identitätspolitik zu legen heißt noch lange nicht, dass man Minderheiten diskriminieren soll und dass man nichts mehr für solche Minderheiten tun dürfe. Es geht eher darum Verhältnismäßigkeiten einzuhalten.

Mo., 21.07.2025 - 20:55 Permalink
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Stefan S Di., 22.07.2025 - 08:06

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

"dass es wichtig sei zu gendern und Steuergelder für Fahrradwege in Peru ausgegeben werden, "
Sie argumentieren bzw. polemisieren/polarisieren mit der Agenda der Rechtspopulisten und Rechtsextremen.
Es besteht in keiner Weise Anlass dazu an dieser Masche zu verfangen und dieser Art der Gesellschaftsspaltung Verständnis entgegen zu bringen.
Weil weder Gendern noch Fahrradwege in Peru unsere Gesellschaft bedrohen. Auch Wärmepumpen und Solaranlagen sind nicht bedrohlich.
Bedrohlich sind diese ewig gestrigen fossilen Betontrotzköpfe welche mit Ihrer Lobby gerade die globale Gemeinschaft zersetzen und mit allen Mitteln Ihre Goldesel verteidigen wollen.

Di., 22.07.2025 - 08:06 Permalink
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Salto User
Oliver Hopfgartner Di., 22.07.2025 - 08:51

Antwort auf von Stefan S

Die sogenannte "Agenda der Rechtspopulisten" scheint zu funktionieren und das ist eine Realität, die es anzuerkennen gilt. Catenaccio ist auch keine schöne Art Fußball zu spielen, war aber seinerzeit erfolgreich und eine Realität, an die sich auch andere Vereine anpassen mussten.
In einer Demokratie ist es auch nicht anders: Auch wenn uns ein Trend oder eine Argumentation nicht gefällt, kann sie trotzdem erfolgreich sein. Wenn wir dem nicht Rechnung tragen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Wahlen so ausgehen, wie sie aktuell meistens ausgehen - nämlich mit Zuwächsen für die sogenannten Rechtspopulisten.

Was echte Bedrohungen für die "globale Gemeinschaft" sind und was nicht, spielt dabei auch eine untergeordnete Rolle, da die meisten Leute aus dem Bauch heraus wählen und die gefühlte Sympathie/Glaubwürdigkeit eines Kandidaten wichtiger ist als die konkrete Programmatik.

Im Übrigen ist es ein Unding Kritik ständig die Rechtsextremismuskeule zu schwingen! Sie sind doch nicht ernsthaft der Meinung, dass es rechtsextrem (sie haben das Wort explizit verwendet) sei, wenn jemand kritisiert, dass wir zwar Geld für Fahrradwege in Peru haben, aber kein Geld für einen Fahrradweg bei uns oder für die Rente einer Trümmerfrau haben? Das wäre dann nämlich auch nichts anderes als schäbigster Populismus.

Mein Punkt ist: Die Rechtspopulisten greifen oft geschickt tatsächliche Missstände auf. Das zu leugnen wäre dumm. Vernünftiger wäre es diese Missstände aufzugreifen und eigene Lösungsvorschläge zu machen.

Di., 22.07.2025 - 08:51 Permalink
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Stefan S Di., 22.07.2025 - 12:00

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

" die es anzuerkennen gilt."
Nein erkenne ich nicht an, nehme ich zur Kenntnis und mache mir größte Sorgen und bringe dies in meinem Umfeld auch deutlich und sachlich argumentativ zur Sprache.
"Catenaccio ist auch keine schöne Art Fußball zu spielen,"
Dies ist kein Fußballspiel, Ihre Vergleiche sind mal wieder völlig entartet, hier geht es um Ausgrenzung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
"aus dem Bauch heraus wählen und die gefühlte Sympathie/Glaubwürdigkeit eines Kandidaten wichtiger ist als die konkrete Programmatik."
Was dann eindeutig an mangelnder politischer Bildung gepaart mit der Propaganda von Links- und Rechtsextremen liegt.
"Rechtsextremismuskeule zu schwingen"
Ich schwinge keine Keule sondern nenne die Dinge beim Namen und für Rechtsextreme Positionen und Wähler habe ich in der heutigen Zeit kein Verständnis. Egal wie blöd sich die anderen sich angestellt haben.
"aber kein Geld für einen Fahrradweg bei uns oder für die Rente einer Trümmerfrau haben?"
Schon wieder so ein schräger Vergleich, sowohl ist Geld für Fahrradwege da und auch die Trümmerfrauen hatten meist eine einträgliche Rente. Aber ich befürchte das Ihre Trümmerfrauen zu 99,9% leider nicht mehr am Leben sind. Meine Mama ist geb. 1936, ist jetzt 89 Jahre alt und gehörte zu den Flüchtlingskindern. Sie bezieht eine gute bis sehr gute Rente und beschwert sich nur über die Dummheit von Teilen der Gesellschaft welche keine Ahnung davon hat was Krieg bedeutet und vor allem was eine russische Besatzung bedeutet.
"Vernünftiger wäre es diese Missstände aufzugreifen und eigene Lösungsvorschläge zu machen."
Und? Wo sind Ihre Lösungsvorschläge?

Di., 22.07.2025 - 12:00 Permalink
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Stefan S Di., 22.07.2025 - 20:30

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

"während ihm sozialdemokratische Politiker erklären, dass es wichtig sei zu gendern"
Dieser Unsinn muss leider auch noch aufgegriffen werden, keine Partei hat dieses Thema medial mehr aufgegriffen als die AfD und im Schlepptau die CXU.
Höhepunkt bildete die CSU mit einem Genderverbot für die bayrischen Behörden obwohl es keinen Genderzwang in jeglichen Behörden in Deutschland gab.
Hier noch ein Auszug eines Interviews der unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung zum Thema Rechtsverschiebung in der Politik und wer soll verantwortlich daran sein.
"ZEIT: Irgendetwas muss das progressive Lager aber doch falsch gemacht haben, wenn es den Kampf ums Narrativ gegen das reaktionäre Lager verloren hat. Was müssen Sie künftig anders machen, um nicht noch mehr gesellschaftlichen Boden zu verlieren?

Ataman: Ich glaube, die Verschiebung hat viel mit Desinformation und strategischer Hetze in sozialen Medien zu tun und weniger mit individuellen Fehlern, die es bestimmt auch gab. Wir wissen, dass gesellschaftliche Spaltung über soziale Medien zu hybriden Kriegsstrategien gehört und in Handbüchern von rechtsextremen Thinktanks steht."
und auf weiteres nachbohren....
"ZEIT: Hm, viel läuft schief, aber selbst haben Sie nichts falsch gemacht – ist das wirklich Ihr Ernst?

Ataman: Was wollen Sie von mir hören? Wollen Sie wirklich darauf hinaus, dass Menschen mit Migrationsgeschichte selbst schuld sind am Rassismus, weil ein Influencer mal nicht den richtigen Ton getroffen hat? Dass es schon irgendwie Identitätspolitik ist, wenn Lesben, Schwule und trans Personen akzeptiert werden wollen? Dass Frauen mit Kampagnen gegen sexuelle Belästigung so übertrieben haben, dass in den USA ein Präsident gewählt wurde, der "Grab them by the pussy" sagt? Nein. Wer Feministinnen, Menschen mit Behinderung oder mit Migrationsgeschichte selbst verantwortlich macht für die Zunahme von Rechtsextremismus, geht Letzterem auf den Leim. Mehr Abschiebungen und weniger Frauenrechte werden als Strategie gegen Rechtsextreme nicht funktionieren."
https://www.zeit.de/kultur/2025-07/ferda-ataman-antidiskriminierungsbea…

Di., 22.07.2025 - 20:30 Permalink