„Bist mit'm Luftschiff kumme?“
Der Eröffnungsbeitrag trägt den Titel „ Bist mit' m Luftschiff kumme?“ und gibt einen kleinen Einblick in die Welt dieses „vergessenen Volkes“.
Die schwammige, giftblonde Frau im Store hinter der Tankstelle zuckt ratlos die Schultern. Der unangenehm süßliche Duft der roten Würstchen, die sich auf dem Grill drehen, steigt mir in die Nase. Die dicken Arme, die in einem hellblauen Kittel stecken, auf den Ladentisch gestützt, wiederholt sie meine Frage und zieht dabei die dünnen, mit einem Stift gezogenen Augenbrauen hoch: „Pleasant Valley? I don't know“, sagt sie ein zweites Mal. Dann, ganz plötzlich, kommt die Eingebung: „Ah, die Hutterites!“ Die mit der schwarzen Kluft? Die kenne sie natürlich. Sieben Meilen ostwärts sei die Farm, Richtung Minnesota, immer geradeaus. Zu erkennen sei sie an der überdimensionalen Futtermischanlage.
Wir verlassen Flandreau, eine der tristen Kleinstädte in den endlosen Ebenen des Middle-West und biegen in die Maisfelder ein.
Eine Stunde später sitzen wir im Haus des Predigers Peter Tschetter um den Tisch, eingedrungen in die Weltabgeschiedenheit der „Hutterischen Brüder“, deren Leben Regeln und Gesetzen folgt, die bald ein halbes Jahrtausend alt sind. Vergessen ist die Welt der Hamburger rund Hot dogs, die Frauen, eingehüllt in lange Gewänder und Kopftücher, tischen Suppe, Gemüse und Fleisch auf. Ich fühle neugierige Blicke auf mich gerichtet. Vor der Wohnzimmertür sammeln sich Kinder und Frauen und mustern uns mit scheuen Blicken.
Jahrelang habe ich alles gelesen, was mir an Literatur über die Hutterer in die Hände fiel. Jetzt, wo mein Wunsch, dieses „vergessene Volk“ zu besuchen, in Erfüllung gegangen ist, mutet alles beinahe unwirklich an: die schwarzen Hosen und Janker der Männer, die Häubchen der Mädchen, die Kopftücher der Frauen, die archaische Sprache. Eine Märchenwelt fast. „Bist mit'm Luftschiff kumme?“ höre ich fragen, und „Ist's kolt gwes'n in Luftschiff drinn?“ „Wo host dein Weib?“ „Wieviel Kind'r host'n?“ Es regnet Fragen.
Immer mehr Häubchen und schwarze Janker stauen sich im Gang, um die Eindringlinge zu betrachten. Bin ich in frühere Jahrhunderte zurückgekehrt? Ich blicke mich im Zimmer um: ein Schreibtisch, ein Sofa, ein großer Ventilator, eine Glasschrank mit Geschirr, einige Bilder und eine Uhr an der Wand. Eine Durchschnittswohnung. Nichts, was auf den ersten Blick auf die Hutterischen Brüder schließen ließe. Die Uhr allerdings zeigt nicht die in den USA übliche Sommerzeit an, die für die Glaubensbrüder schlichtweg weltlicher Unfug ist. Sie diene nur dazu, „in die Town's a Stund' länger Hurerei zu treib'n.
Es ist Sonntag nachmittag, die Andacht steht bevor. Mit einer Fernbedienung löst der Prediger ein Blinklicht auf dem Kirchendach aus. Nach wenigen Minuten strömen sie aus ihren Häusern, die Hutterischen Brüder und Schwestern in Christo, die „Gmah“, jene Gemeinschaft, die sich als „Arche im Meer der Sünde“ begreift. Schweigend betreten sie das neuerrichtete Gebetshaus, knien in den Bänken nieder. Die Einhaltung der hierarchischen Ordnung ist ihnen selbstverständlich. Männer links, Frauen rechts, die Jüngsten ganz vorne, die Ältesten in der letzten Reihe. An der Decke drehen sich vier große Ventilatoren, das einzige, was im schmucklosen Raum auffällt. Kein Altar, keine Kerze, kein Kreuz, keine Musik zu den Liedern, denn „dos lenkt nur ob vun Gebet“.
Heiligen- und Madonnenverehrung gilt den Hutterern nichts, kirchlicher Prunk ist ihnen ein Dorn im Auge. Ihre Lebensgrundlage ist einzig und allein die Heilige Schrift. Die nehmen sie beim Wort. Während des ersten Liedes blicke ich vorsichtig um mich, nehme die strengen, ernsten Mienen der Erwachsenen wahr, die neugierigen Blicke der Kinder und mein störendes hellblaues Hemd inmitten der schwarzen Janker.
Das Lied ist zu Ende. Die „Lehr“ beginnt. Ich höre dem monotonen Tonfall des Predigers zu: vom Teufel, der überall lauert, von der Sünde, die allgegenwärtig ist. Ich schiele zur Seite, um mich zu vergewissern, ob jemand diesen so unpersönlich und mechanisch vorgetragenen Ausführungen folgt. Doch mit Ausnahme der kleinen Kinder scheinen alle zuzuhören.
Allmählich beginne ich meine Knie zu spüren, während Peter Tschetter seine Gmah noch immer auf den „graden und lauteren Lebensweg“ einschwört: „Die Teifl wiss'n, dass o Gott is, ober sie zittern vor ihn. Der Mensch i dümma, er zitt'rt nit amol vor Gott. Ober dr Mensch is ka wilder Bam, der noch seine Gelüsta wochs'n konn. Der Mensch muaß Geistesfrücht trog'n!“
Schweigend und in gewohnter Ordnung verlässt die Gemeinde die Kirche. Zuerst die Männer, dann die „Weibsleit“.
"widmet der Autor Gerhard
"widmet der Autor Gerhard Mumelter den Hutterern, den Tiroler Täufergemeinden ": weder genealogisch (Familiennamen) noch genetisch stammen die heute lebenden Hutterer nachweisbar von Tirolern ab. Jene aus Tirol wurden in Massen hingerichtet; wer es ab 1529 nach Mähren schaffte, würde entweder von Türken versklavt (Hutterer sind Pazifisten und somit leichte Beute) oder durch sonstige Verfolgungen (Obrigkeit, Landes-Kirche) fast bis zur Ausrottung dezimiert. Ein kümmerlicher Rest von Urhutterern mit Ahnen aus dem süddeutschen Sprachraum bildete ab 1767 mit Kärtner Immigranten in der Wallachei die Urgemeinden, welche die Vorfahren der heutigen Hutterer sind. Also mehrheitlich Kärtner Abstammung, einzig der Namer stammt vom Namensgeber aus dem Pustertal. https://de.wikipedia.org/wiki/Hutterer#Ungarn.2FSlowakei_und_Siebenb.C3…
Antwort auf "widmet der Autor Gerhard von Martin B.
Danke Martin für diese
Danke Martin für diese Information. Ich habe den Text aus der Arunda so übernommen, wie er dort verfasst ist. Die Definition muss irgendwie mit dem Namen zusammenhängen.
Antwort auf Danke Martin für diese von Sebastian Felderer
Gerne. Ich bin jetzt auch
Gerne. Ich bin jetzt auch kein ausgewiesener Experte, aber die Geschichte der Hutterer interessiert mich auch. Den Täufergedanken brachten ja die Schweizer nach Tirol, vor allem in Person von Martin Blaurock, ein Graubündner, der auch bei uns dann hingerichtet wurde. Also Glaubensgründer aus der Schweiz, Namensgeber aus dem Pustertal und Vorfahren vor allem aus Kärnten. Soweit ich es gelesen habe, sind die amerikanischen Hutterer ja mittlerweile (ähnlich wie die Amish) auch in viele Untergruppen zersplittert, die die Spannung zwischen Konservatismus und moderner Welt unterschiedlich lösen.