Chronik | Bürgerproteste

Der soziale Erdrutsch

Nach Erdrutschen und Schlammlawinen bricht in Italiens Städten auch das soziale Gefüge ein. Viele Bürger fühlen sich verlassen und protestieren gegen die Verwahrlosung.

Fast scheint es so, als seien die dramatischen Bilder täglicher Erdrutsche und Schlammlawinen nur eine triste Metapher für die Unterspülung des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges, das Italien zunehmend bedroht. In der verwahrlosten Peripherie großer Städte lassen die Bürger ihrer Wut zunehmend freien Lauf. Im römischen Viertel Tor Sapienza mußte ein Aufnahmelager für minderjährige Migranten eilends von Carabinieri geräumt werden. Der mit zweitägiger Verspätung erschienene Bürgermeister konnte sich nur unter Polizeischutz bewegen. Einige Bewohner des Viertels empfing er später in seinem Amtssitz auf dem Kapitol. Bei der Räumung zweier centri sociali in Mailand kam es am Dienstag zu regelrechten Guerillaszenen, die Auseinandersetzungen dauerten 16 Stunden. Die Polizei geriet in Bedrängnis, als sie eine illegal besetzte Stadtwohnung räumen wollte.

Das Problem der besetzten Wohnungen erweist sich  in der Finanzmetropole immer mehr als gefährlicher Brandherd. Pro Woche werden mehrere Dutzend Wohnungen besetzt - meist von Ausländern. 1500 waren es bisher in diesem Jahr. 4100 sind es insgesamt. Die meisten gelten bereits als "occupazioni consolidate." Fast 70.000 Wohnungen verwalten das lombardische Wohnbauinstitut Aler und die Gemeinde. Das Aler, das über Jahrzehnte der Postenbeschaffung diente, weist in der Bilanz ein Loch von 60 Millionen auf. Weitere 90 werden von nicht bezahlten Lieferanten eingefordert. Die Altlasten belaufen sich auf 306 Millionen.

Fast 10.000 Wohnungen stehen leer, aber für ihre dringende Sanierung fehlt das Geld. 20.000 Bewerber stehen auf den Ranglisten. 400 bis 500 Euro verlangen Kleinkriminelle für das Aufbrechen einer Wohnung, die umgehend von Frauen und Kindern besetzt werden, um eine Räumung zu verhindern. Viele Bewohner verlassen ihr Heim nur für kurze Zeit, um nicht bei ihrer Rückkehr Besetzer in ihren vier Wänden zu finden.  Viele Wohnblöcke werden von Dealern, Roma-Clans und Erpressern  kontrolliert. Auf einen Aler-Sitz wurde am Mittwoch ein Brandanschlag verübt. Das Problem gilt in der Expo-Stadt als bedrohliche Zeitbombe. Das Fehlen jeder Form von geregelter Immigrationspolitik droht nun zum Bumerang zu werden - nicht nur in Mailand.

"Ich bezahle gleich viel Steuer wie die Bewohner im Stadtzentrum. Bin ich ein Bürger zweiter Klasse, nur weil ich im Niguarda-Viertel wohne ?", brachte eine Leserbriefschreiber das Problem auf den Punkt. Vor allem in den Großstädten fühlen sich viele Menschen vom Staat oder der Stadt verlassen, bemängeln das Fehlen von Sicherheit, die fehlende Reinigung, die wachsende Verwahrlosung - ein ideales Tätigkeitsfeld für rechte Populisten wie Matteo Salvini, die vor allem das Ausländerproblem anheizen.

Die sozialen Konflikte nehmen drastisch zu. Kein Tag ohne Kundgebung, keine Kundgebung ohne gewalttätige Auseinendersetzungen. Soziologen  sprechen von einem Identitätsverlust: "In molti quartieri si vive in una condizione di extraterritrorialitá, i cittadini si sentono abbandonati dalle istituzioni. Qui basta una scintilla per far scoppiare un incendio."

Brandherde und Überschwemmungen. Eine vergewaltigte Natur und zunehmend verängstigte Menschen. Und keine brauchbaren Rezepte. Ausser drastischen wie jenen des Geologen Fabio Luino vom Istituto di ricerca per la protezione idrogeologica:  "A Genova bisognerebbe chiamare le ruspe e buttare giú interi quartieri. O sperare che non piova piú."

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Martin B. Do., 20.11.2014 - 11:11

Traurig. Die derzeitige Situation scheint zum Scheitern verurteilt; wäre kein großes Problem, wenn Italien nicht so reformunfähig wäre.

Do., 20.11.2014 - 11:11 Permalink