Gesellschaft | Diskussion

Sanität: "Wo bleibt die Qualität?"

Starke Worte nach 35 Jahren im Bozner Krankenhaus: Woran Südtirols Sanität laut dem Pädiater Giorgio Radetti krankt.

Die Diskussion über Südtirols Sanität ist letzthin eher Domäne von Bürgermeistern als der Ärzte und Ärztinnen selbst. Die haben schließlich im Gegensatz zu Politikern oder der Bevölkerung einen Maulkorb von ihrem Arbeitgeber verhängt bekommen. Wer den Sanitätsbetrieb allerdings nach 35 Jahren verlässt, muss sich darum nicht mehr scheren. Das zeigt ein Interview mit dem Pädiater Giorgio Radetti in der Sonntags-Ausgabe der Tageszeitung Alto Adige. Ein Spezialist, der im Krankenhaus Bozen ein Kompetenzzentrum für pädiatrische Endokrinologie aufgebaut hat, das heute aufgrund seines guten Rufs zu 50 Prozent Kinder von außerhalb der Provinz behandelt. Darüber hinaus kann Radetti auf mehr als 280 wissenschaftliche Publikationen in internationalen Fachzeitschriften verweisen. „Lest jede Woche mindestens eine medizinische Fachzeitschrift“, war einer der Regeln, der er seinen jungen Ärzten immer nahelegt, erzählt der Mediziner dem Alto Adige. „Doch sie antworten mir: Dazu haben wir keine Zeit.“

Für Radetti eines der vielen Symptome, das zeigt, woran Südtirols Sanität selbst krankt: „Im Krankenhaus wird seit langem Quantität und Qualität verwechselt“, sagt er. Die Bürokraten hätten die Mediziner ausgebootet  - mit einer geradezu besessenen Kontrolle von Zeiten und Turnussen. Ein nachvollziehbarer, wenn auch extrem schädlicher Prozess, wie der Pädiater meint. Denn schließlich sei die Kontrolle von Qualität von Nicht-Spezialisten weit schwieriger zu handhaben.

"Mit den kleinen Geburtenstationen werden aus politischen Gründen Strukturen ohne Know-how am Leben gehalten."

„Wenn ich Kinder von auswärts behandle, verdient der Betrieb daran“, gibt Radetti ein Beispiel. „Das heißt, die Investition in die Qualität der Behandlungen ist nicht als Kostenpunkt zu sehen, sondern wirtschaftlich sinnvoll.“ Doch immer wieder sei er mit seinen Vorschlägen für mehr Qualität auf Ablehnung gestoßen – zum Beispiel mit einer Studie, die eine Vernetzung der Bozner Pädiatrie mit italienischen und internationalen Kompetenzzentren via Skype vorgesehen hat. Spezialistinnen und Spezialisten hätten sich auf diese Art unmittelbar miteinander austauschen können. Ein Modell, das nun die Engländer übernommen haben, sagt der Arzt. „In Bozen gibt es andere Logiken, zum Beispiel den Proporz.“

Kein Blatt vor den Mund nimmt sich Giorgio Radetti auch, wenn es um die aktuelle Diskussion über die kleinen Geburtenstationen geht. Eine Diskussion, die nicht einmal geführt werden dürfte, meint er. „Hier werden aus politischen Gründen Strukturen ohne Know-how am Leben gehalten.“ Die Folgen hätte man in Bozens Pädiatrie immer wieder erlebt, wenn Neugeborene mit Problemen aus den Kleinkrankenhäusern überstellt werden. „Zu oft ist es da aber schon zu spät“, sagt Radetti. „Und Kinder, die ein normales Leben haben hätten können, werden ein abnormales haben – und das wegen der vermeintlichen Bequemlichkeit, nicht ein paar Kilometer weiter entfernt auf die Welt zu kommen.“ 

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Markus Lobis So., 01.03.2015 - 11:30

Typisch arrogantes Arzt-Verhalten. Alle unsere Kinder sind in Sterzing auf die Welt gekommen, weil sich Dr. Thöni dort als Arzt extrem zurückgehalten hat und dort die Hebammen und alle die guten weiblichen Geister das Sagen hatten .

Dr. Thöni war da, wenn es ihn gebraucht hätte. Aber er hat nicht in den Geburtsvorgang und das Kreißsaalgeschehen eingegriffen und die ärztliche Kompetenz vor das Wissen der Frauen gestellt. Das hat mich sehr beeindruckt.

Natürlich ist eine Geburt ein hochriskanter Vorgang und ein äußerst dramatisches Ereignis. Und es ist gut und sehr wichtig, dass eine gute ärztliche Versorgung zur Verfügung steht, wenn es Komplikationen gibt.

Das ist aber kein Grund, aus dem innigsten, stärkstem und beglückendsten Ereignis in unseren Leben einen - männerdominierten - medizinisch-technischen Vorgang zu machen.

So., 01.03.2015 - 11:30 Permalink
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Sylvia Rier So., 01.03.2015 - 12:14

Antwort auf von Markus Lobis

Nun ja (auf die Gefahr hin, mich - zu - weit aus dem Fenster zu lehnen...), "das innigste, stärkste und beglückendste Ereignis" ist wohl eher erst Mal die Sicht des Mannes, der daneben steht; im allgemeinen gilt eine Geburt als Schwerstarbeit, für Mutter und Kind ;-) Innig, stark und beglückend kommt danach, finde ich, aber auch nicht immer sofort, habe ich mir sagen lassen. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Was mich an dieser Diskussion um "die kleinen" im Lande am nachhaltigsten beeindruckt hat, ist die Erkenntnis, dass auch heute noch - trotz aller Technik und allen Fortschritts - am Ende einer jeden, auch ganz normal und völlig ruhig verlaufenden Schwangerschaft ein 30-Prozent-"Rest"-Geburtsrisiko bleibt (bei 30 Prozent kann man nicht wirklich von "Restrisiko" reden, glaube ich...), für die Mutter und das Kind. Das hat mich richtig getroffen - es war völlig neu für mich. Ich glaube, ich hatte vor meiner Blinddarm-Operation mehr Sorge als vor der Geburt, an ein wie auch immer geartetes Risiko bei letzterer hatte ich nie auch nur gedacht, nicht im entferntesten.

So., 01.03.2015 - 12:14 Permalink