Gesellschaft | Flüchtlinge

Wo alle an ihre Grenzen stoßen

Mehr und mehr Flüchtlinge stranden am Bozner Bahnhof. Um sie kümmern sich freiwillige Privatpersonen. Ein Bericht von vor Ort.

Es ist kurz vor halb elf Uhr. Am Bahnsteig 3 des Bozner Bahnhofs wird es hektisch. Denn um 10.31 Uhr kommt der Zug aus Verona an. Ziel: München. Heute, am Donnerstag Mittag, sind es knapp hundert von ihnen, die versuchen wollen, in Richtung Deutschland weiterzukommen. 83 Flüchtlinge haben die Freiwilligen gezählt. Darunter viele Minderjährige, vor allem Jungen. Doch auch Familien sind dabei, Frauen mit ein, zwei kleinen Kindern. Und eine Gruppe von sechs Freunden, die sich gemeinsam auf den Weg gemacht haben. Jene, die die Freiwilligen ansprechen, haben allesamt ein Ticket für den Zug. Einen Reisepass und gültige Aufenthaltspapiere hingegen besitzt niemand. Fast niemand.


Donnerstag Morgen

Viele der am Bahnhof gestrandeten Menschen sind erst am Morgen angekommen. Sie waren auf dem Weg in den Norden, in Bozen sind sie von der Polizei des Zuges verwiesen worden. Andere sind schon länger am Bahnhof. “Ein junger Mann hat mir gestern erzählt, dass er bereits seit vier Wochen hier bei den Gleisen schläft”, berichtet eine Frau. Sie ist eine der Freiwilligen, die sich in der letzten Zeit vor allem auf Facebook zusammengefunden haben, um den Flüchtlingen am Bahnhof so gut es geht zu helfen. Sie bringen Essen und Trinken – frisches Obst, Kekse, Nüsse und Cracker. Alles, was haltbar ist und auch auf der Reise mitgenommen werden kann. Am Donnerstag Morgen gibt es auch frisch gebrühten Kaffee.

Verteilt werden die Sachen von drei Freiwilligen, die seit dem Morgen am Bahnsteig zwischen Gleis 3 und 4 auf und ab gehen. Sie sprechen die Menschen an, fragen, woher sie kommen, ob sie etwas brauchen. Doch nur selten erhalten sie eine Antwort. Kaum jemand spricht Englisch, geschweige denn Deutsch oder Italienisch. Manchmal kommt ein leises “Thank You” oder “Grazie”, wenn dem einen oder der anderen eine Banane, ein Brioche oder ein Becher Wasser in die Hand gedrückt wird. Jedes Mal kommt ein Lächeln zurück.

Unterschiedlich sind die Reaktionen der Reisenden am Bahnsteig. Skeptische, angeekelte Blicke fallen ebenso wie das eine oder andere unfreundliche Wort: “Via con tutti i profughi!” Doch viele der Wartenden interessieren sich, fragen nach, bieten Hilfe an. Eine ältere Dame überlässt den Freiwilligen ihren Apfel, eine andere macht sich auf den Weg und kauft Wasserflaschen.


Donnerstag Mittag

10.31, der EC-Zug aus Verona fährt ein. Sobald sich die Türen der Waggone öffnen, stellt sich je ein Beamter der Bahnhofspolizei daneben. Aus dem Zug selbst steigen sowohl deutsche als auch österreichische Polizistinnen und Polizisten. Wachsam lassen die Sicherheitskräfte den Blick über die Menschenmenge schweifen. Wer einsteigen will, wird nach Reisepass und Papieren gefragt. Zumindest jene Menschen, die wie Flüchtling aussehen, sprich schwarzer Hautfarbe sind. Alle anderen können ungehindert den Zug besteigen. Um 10.34 Uhr fährt der EC-Zug ab. Kein einziger der 83 wartenden Flüchtlinge wird darin seine Reise fortsetzen.


Mittwoch

Viele von ihnen haben eine lange Reise hinter sich. Ghana, Eritrea und Somalia sind die Länder, aus denen sie kommen. Zumindest jene, die sich mit den Freiwilligen verständigen können beziehungsweise wollen. Am Mittwoch sind auch syrische Flüchtlinge unter den Wartenden am Bahnhof. Eine der freiwilligen Frauen, die dort war, berichtet: “Am Vormittag wurden 59 Flüchtlinge von beinahe ebenso vielen Polizeibeamten aus dem EC geholt. Männer, Frauen, Minderjährige – hungrig, schwach, erschöpft.”

Eine Herausforderung für die fünf Freiwilligen. Denn sie sind auf sich alleine gestellt: “Es waren keinerlei Hilfsorganisationen vor Ort. Weder Caritas, Rotes Kreuz noch Volontarius.” Am Mittwoch Abend kommt es dann zu einem dramatischen Vorfall: Eine hochschwangere Frau kollabiert am Bahnsteig, ihr kleiner Sohn sitzt daneben und weint. “Wir haben die Rettung verständigt, die Frau wurde ins Krankenhaus gebracht”, erzählt eine Freiwillige.

Die Helferinnen und Helfer versuchen den Flüchtlingen so gut es geht zur Seite zu stehen. Am Mittwoch Abend begleiten sie drei Personen zum Bahnhofspark. Dort gibt Volontarius täglich Essen aus. “Einerseits sollten die Menschen etwas zum Essen bekommen, auf der anderen Seite haben wir gehofft, dass sie dort Landsleute treffen, die ihnen in ihrer Sprache Auskunft geben können”, erklärt eine der Helferinnen. Die fehlenden Sprachkenntnisse erschweren die Situation der Flüchtlinge zusätzlich. “Ich bin zum Beispiel einem jungen Mann begegnet, der nur einen schmutzigen Zettel dabei hatte, auf dem in fehlerhaftem Italienisch und Englisch stand: ‘Von wo fährt der Zug nach München? Wo ist der Warteraum?’ Ich habe jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke”, so die Frau.


Donnerstag Mittag

Inzwischen hat sich am Donnerstag Mittag ein kleiner Tumult ergeben. Die freiwilligen Helfer sind in einen Streit mit der Bahnhofspolizei geraten. Denn diese haben einem Mann den Zugang zum Zug verweigert, nachdem er ihnen einen gültigen Reisepass sowie seine Papiere gezeigt hatte. Die in Ordnung waren. “Es war zu spät”, verteidigt sich ein Polizist, “der Zugführer hat die Türen bereits geschlossen gehabt, da können wir nichts mehr machen.” “Es ist eine Schande”, hört man eine Stimme, “ein Armutszeugnis für einen Rechtsstaat, das was hier passiert.”

Doch auch die Polizisten selbst scheinen heillos überfordert. “Meint ihr, das, was hier passiert, geht spurlos an mir vorbei?”, erwidert einer von ihnen. “Ich habe zu Hause selbst drei Kinder. Und wenn ich die Familien hier sehe, macht mir das auch zu schaffen.” Eine Diskussion bricht los. Die Flüchtlinge scharen sich um die Gruppe von Freiwilligen, die sich mit den Polizisten anlegen. “Von mir aus können diese Leute alle weiter ziehen”, gesteht einer der Polizisten, “ich hätte damit kein Problem. Denn heute sind es hundert, morgen könnten es schon tausend Flüchtlinge sein. Und uns sind die Hände gebunden, niemand kümmert sich darum.” Die anfänglich hitzige Diskussion flaut nach kurzer Zeit ab. Alle sehen ein, dass sie gleich machtlos und ohnmächtig sind.


Und jetzt?

Die Freiwilligen stoßen ganz schnell an ihre Grenzen – an die sprachlichen und legalen, sobald sie vor Ort am Bahnhof sind. Denn inwiefern sie den Flüchtlingen Auskunft geben dürfen – etwa darüber, dass sie auch versuchen könnten, mit dem Regionalzug bis an den Brenner und dann weiter zu gelangen – ist unklar. “Wir bewegen uns hier in einer Grauzone”, bestätigen die Freiwilligen. Daher begnügt man sich vorerst damit, den Menschen Essen und Trinken zu besorgen, bezahlt aus der eigenen Tasche.

Doch auch menschliche Grenzen werden erreicht. “Ich habe in der Nacht auf Donnerstag nicht geschlafen. Ich hatte die ganze Zeit diese Bilder vor mir. Verzweifelte Menschen, unwürdige Situationen, Ratlosigkeit”, so eine junge Meranerin. Sie war am Mittwoch am Bozner Bahnhof. Am Donnerstag Morgen steht sie wieder dort. Auch am Freitag wird sie kommen. Und wird viele der Menschen, die heute dort waren, wieder treffen. Denn sie werden immer noch dort sein, in der Hoffnung, doch irgendwann weiter zu kommen.

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pérvasion Do., 23.04.2015 - 17:46

Und wo bleiben unsere Institutionen? Die Polizei ist nicht gemeint, wohlgemerkt, sondern Hilfsangebote!

Do., 23.04.2015 - 17:46 Permalink
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Michael Bockhorni Sa., 25.04.2015 - 08:36

Danke an die Freiwilligen, aber solche (globalen) Probleme müssen gemeinsam mit Professionellen gelöst werden, wenn Südtirol sich weiterhin als soziales Musterland bezeichnen will.

Sa., 25.04.2015 - 08:36 Permalink