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Triumph der Heuchelei

Drei Tage lang hat die Türkei den 100. Jahrestag ihres Siegs in Gallipoli gefeiert, um den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern zu vertuschen.

In den meisten "Tourismus-Paketen" für Istanbul-Besucher ist eine Fahrt nach Gallipoli enthalten. Dort hatten die Jungtürken unter der Führung von Kemal Atatürk mit deutsch-österreichischer Hilfe die französisch-britischen Allierten geschlagen: Ein völlig unerwarteter Sieg, der den damaligen Zerfall des osmanischen Großreiches vorübergehend stoppte.

Seit der Machtübernahme durch den konservativ-nationalistischen Präsidenten Tayyip Erdogan wird dieser Sieg in der Türkei umgedeutet: In eine Schlacht islamischer Kämpfer gegen die christlichen Kreuzfahrer.  Das stimmte insofern nicht, als der damalige Heerführer und spätere Staatsgründer Kemal Atatürk alles Islamische strikt ablehnte . 

Er wollte westlich sein und hatte mit religiösen Interpretationen absolut nichts am Hut. Dass innerhalb des damaligen osmanischen Heeres auch eine Gruppe  von Dschihadisten kämpfte, ist allerdings verbrieft. Sie waren besonders todesmutig, beziehungsweise bereit, in den ersten Reihen in die Schacht zu ziehen und dort zu sterben. 

Historikern zufolge hätten deutsche Generäle diesen Umstand damals geschickt ausgenutzt und den Dschihadismus unterstützt, um die Zahl der todesbereiten Soldaten der ersten Linie aufzustocken. 

In Gallipoli hatten auch Armenier auf der Seite der Osmanen gekämpft.  Doch während sie auf den Schlachtfeldern ihr Leben riskierten,  wurden im Landesinneren, hauptsächlich in Ostanatolien, ihre Familien ausgerottet. Den Armeniern war immer wieder vorgeworfen worden, sie konspirierten zusammen mit Russland, das mit Frankreich und Großbritannien verbündet war, gegen das Osmanische Reich.

Weil ein Teil der Armenier im russisch-osmanischen Grenzgebiet lebte und weil die ostanatolischen Armenier für eine Autonomie innerhalb der heutigen Türkei kämpften, wurden sie zum Staatsfeind Nummer 1 erklärt. Mit dieser Begründung wurden am 24. April 1915 die rund  250 Führer der armenischen Gemeinschaft in Istanbul festgenommen. Damit begann die systematische Ermordung und Vertreibung von über einer Million Armenier. 

Begründet wurde die Deportation der Armenier aus Ost-Anatolien damit, dass eine "feindlich eingestellte" Volksgruppe von der Front (mit Russland) entfernt werden müsse. Handlanger dieser Operation waren auch hohe deutsche Offiziere. Einer wird mit den Worten zitiert: "Die Armenier werden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich".

Kein Wunder, dass Adolf Hitler später nur die Definition des Staatsfeindes Nummer eins ändern musste: Statt den christlichen "Zersetzern", die jüdischen...Selbst die Benutzung von Viehwaggons zur Deportation, wie sie für die Armenier benutzt wurden, kopierte der verbrecherische Diktator, als er Juden in die Konzentrationslager karren liess.

Nun aber zurück zur Gegenwart:  Dass der 100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern für die Türkei zur Peinlichkeit und Isolierung ausarten würde, hat die türkische Regierung bereits vor vier Jahren vorausgesehen - und zu verhindern versucht.  

Sie beschloss, den Sieg von Gallipoli  heuer ausnahmsweise vom 23. bis zum 25.  April zu feiern,  obwohl er normalerweise am 18. März begangen wird. Drei Tage lange gedachte man mit Zeremonien und der Aushängung von Fahnen  der Schlacht von Gallipoli , um den 24. April  zu überschatten. 

Das gelang insofern nicht, als ausgerechnet Deutschland in der Person von Staatspräsident Joachim Gauck erstmals offiziell den Völkermord an den Armeniern anerkannte, nachdem dies zuvor auch Österreich, die Schweiz und Frankreich getan hatten.   Höchste Regierungsvertreter in Ankara waren zu wütenden Protestnoten gezwungen, womit die "armenische" Frage in der türkischen Öffentlichkeit wieder Aufwind bekam.

Diese türkische Öffentlichkeit wurde in der Vergangenheit systematisch auf  Hass und Misstrauen gegen die Armenier getrimmt. Erst kürzlich untersuchte ein deutscher Historiker die türkischen Schul-Geschichtsbücher auf ihre Darstellung der sogenannten "Armenien-Frage".  Er kam zum Schluss,  dass dieses Geschichtsbild von  Vertuschung und Unwahrheit geprägt sei. 

Dass sich die heute etwa  100.000 in der Türkei lebenden Armenier noch immer nicht sicher fühlen, hat auch mit diesem negativen Geschichtsbild zu tun. Sie haben auch alles Grund dazu: als Papst Franziskus kürzlich erstmals offen vom Völkermord an den Armeniern als erstem Genozid des 20. Jahrhunderts sprach, wollte der türkische Staatspräsident Erdogan in einer spontanen Gegenreaktion diese 100.000 Staatsbürger sogar des Landes verweisen!!

Andererseits hat sich Erdogan bemüht, gegenüber den Armeniern ein wenig friedfertiger aufzutreten. Bei der Gedenkfeier an den Völkermord am Freitag in der armenisch-christlichen Kirche in Istanbul war auch der türkische Europaminister anwesend. Er verlas eine Erklärung Erdogans, in der man den Tod der vielen Armenier bedauerte und den Nachfahren das Beileid aussprach. 

Doch bevor ein türkischer Regierungsvertreter das Wort Genozid in den Mund nehmen wird, müssen wahrscheinlich noch viele Jahrzehnte vergehen.