Zum Glück spricht niemand
Zum Glück spricht niemand mehr von einem EU-Beitritt der Türkei.
Turbulente Zeiten zeichnen sich in der Türkei ab, nachdem die Regierungspartei AKP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren hat. Weil die mächtige Partei des türkischen Staatspräsidenten Tayip Erdogan voraussichtlich einen Koaltionspartner suchen muss, um das strategisch wichtige NATO-Land zu regieren , spricht man in Istanbul bereits von vorgezogenen Neuwahlen.
Denn der autoritäre und zum Jähzorn neigende Staatschef wird es nicht hinnehmen, Kompromisse mit anderen Parteien einzugehen. Vielmehr könnte er versuchen, politische Instabilität zu schüren, um sich selbst als einzig fähigen Politiker darzustellen, ohne den das Land zusammenbricht. Besonders schmerzhaft ist es für Erdogan, dass er den Plan einer Verfassungsänderung zu seinen Gunsten vorerst auf Eis legen muss.
Jubel bei der Kurdenpartei HDP, die erstmals als eigene Partei ins türkische Parlament einzieht. Ihr Chef Selahattin Demartis hatte einen sehr besonnenen und gemäßigten Wahlkampf geführt und auf diese Weise auch Wähler überzeugt, die Kurden bisher als Staatsfeinde betrachteten.
Zweitstärkste Partei nach der AKP bleibt die laizistische CHP, die das politische Erbe Kemal Atatürks verwaltet. Den erhofften Durchbruch erzielte CHP-Chef Gursel Tekin aber nicht.
Die Anhänger der ultranazionalistischen MHP befinden sich dagegen im Siegestaumel. Sie verbuchten starke Stimmengewinne und sind die drittstärkste Partei im Parlament. Ein Ableger der MHP sind die gefürchteten "Grauen Wölfe " . Ali Agca, der das Attentat auf Papst Johannes Paul II verübt hatte, gehörte dieser rechtsextremen Terrororganisation an.
In Istanbul wird mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Davutoglu gerechnet, der innerparteilich für das Desaster verantwortlich gemacht wird. Schon lange vor den Parlamentswahlen gab es immer wieder Reibereien zwischen Erdogan und seinem Ministerpräsidenten. Jetzt könnte Davutoglu "abserviert " werden.
Die Stimmenverluste der Regierungspartei gehen einher mit einer Wirtschaftskrise, die nicht mehr zu leugnen ist. Eine Immobilienblase, gekoppelt an eine dramatische Verschuldung der Haushalte, droht zu platzen. Ausländische Investoren ziehen ab. Auch die größenwahnsinnigen Bauvorhaben Erdogans können dem nicht entgegenwirken.
Letzter Schrei ist der Bau eines neuen Bosporus, also eines neuen Kanals zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmara Meer. Dafür müssten ganze Bergketten abgetragen werden. Auch der bereits begonnene Bau des dritten Großflughafens von Istanbul kann die Krise vorerst nicht stoppen. Denn der staatlich geförderte Bau-und Immobiliensektor allein kann dem Land die bisherigen Zuwachsraten von bis zu neun Prozent nicht mehr garantieren.
Zum Glück spricht niemand mehr von einem EU-Beitritt der Türkei.
W die Kurden und anderen Minderheiten dieses extrem nationalistischen ottoman-türkischen Staatsgebildes ohne Respekt gegenüber der eigenen Geschichte in all ihren Facetten.