Gesellschaft | Stadtgestaltung

Mit Lungomare auf den Virgl

Sind der Virgl und das Bahnhofsviertel nun Beispiele für den „degrado“ in Bozen oder gibt es auch andere Ansichten zu den viel diskutierten hotspots in der Stadt?

Mit den Kulturdenkern von Lungomare und dem türkischen Architekten und Künstler Can Altay auf den Virgl – der Ausflug wird ein gedachter sein, der Lokalaugenschein vollzieht sich im Gespräch, im Dialog. Der Virgl und seine Entwicklung sind Aufhänger einer Diskussion, die am Freitag 12. Juni, ab 19 Uhr in der Lungomare-Galerie an der Jenesiener Talstation stattfinden wird.

„Die Stadtentwicklung und der öffentliche Raum waren und sind der rote Faden, der viele unserer Projekte bestimmt und begleitet hat“, erklärt Angelika Burtscher das Anliegen ihres Künstlerkollektivs Lungomare, das es in verschiedensten Besetzungen seit 2003 gibt. „Wir haben Can Altay, einen Künstler und Architekten aus Istanbul, zu einem längeren Aufenthalt, einer Künstlerresidenz, in die Stadt eingeladen. Er beschäftigt sich mit den Themen: Nutzung und Umgang mit dem öffentlichen Raum. Da gab es die Diskussion um Benko und das Bahnhofsviertel noch gar nicht.“ Doch seit letztem Herbst, mit Eintreffen des Künstlers in Bozen und dem Projektstart „Radical Hospitality“, stehen ganz bestimmte Themen im Vordergrund: Bahnhofspark, Angebot von René Benko und die öffentliche Diskussion um die Frage „Wem gehört die Stadt?" Die Bozner und darüberhinaus auch so mancher Südtiroler machten sich Gedanken über Kaufhäuser und Freizeitparks, darüber, ob das Bahnhofsviertel wirklich Sinnbild für Verfall und Verwahrlosung sei und darüber, wessen Aufgabe es nun ist, eine Strategie zur Stadtentwicklung voranzutreiben.

Es gab Treffen zwischen Can Altay und Personen und Gruppen, die Überlegungen zum Bahnhofspark und zur Entwicklung auf dem Virgl anstellen, es gab Begehungen, Diskussionen, eine erste Ausstellung im Herbst 2014 im Lungomare sowie eine Plakataktion auf den Werbeflächen der Stadt. „Can Altay selbst war es, der einen Zeitungsartikel im Alto Adige aus dem Jahr 1948 ausgrub, in dem eine Geschichte zum Virgl erzählt wird, die wir gar nicht kannten", berichtet Lungomare-Mitglied Roberto Gigliotti. „Während und nach dem 2. Weltkrieg haben Familien den Virgl-Tunnel als Wohnraum genutzt: 'Uomini come le talpe', als 'Maulwurfsmenschen' wurden die Leute im Alto Adige-Artikel  bezeichnet. Diese Episode führt heute zu einer konkreten Frage,“ meint Gigliotti, nämlich zu folgender: Was muss geschehen, damit die Stadtbewohner, die Bürgerinnen und Bürger, sich den öffentlichen Raum, sich öffentliche Strukturen aneignen?“ Auch andere Geschichten vom Virgl hätten den Künstler Can Altay besonders angeregt, etwa die Zahnradbahn und die Seilbahn auf den Bozner Hausberg, die Partys und Feste, die in der seit Jahrzehnten aufgelassenen Disko des Clubhauses gefeiert wurden. Fluchtwege und Rückzugsorte, die es am verlassenen Berg zuhauf gibt.

Über all diese Themen soll diskutiert werden. Neben Can Altay werden der in Wien lebende und aus Kaltern gebürtige Architekt Michael Obrist von Feld72, der Kurator Huib Haye van der Werf sowie der Bozner Architekt Stefano Novello die Debatte beleben. „Stefano Novello hat bereits vor Jahren ein Projekt zur reduzierten Nutzung des Virgls bei der Gemeinde Bozen eingereicht,“ präzisiert Angelika Burtscher, „er wird darüber sprechen und einen ganz konkreten Vorschlag einbringen.“

Problematische urbanistische Entwicklungen bzw. Stillstände gibt es in vielen Städten, Bozen ist keine Ausnahme. Gerade deswegen finden es die Lungomare-Betreiber wichtig, den Blick aus der Vogelperspektive hereinzuholen, und die rund um Benko, Bahnhofspark und Virgl aufgeheizten öffentlichen Diskurse um die künstlerisch-distanzierte Betrachtungsweise zu erweitern. „Ich war bei den öffentlichen Debatten in der Eurac dabei und konnte verfolgen, wie die Politik mit dem Thema umgeht,“ erzählt Angelika Burtscher. Das Projekt „Radical Hospitality“ soll kein dezidiert politisches sein oder sozial agitieren, es soll die von außen kommende Betrachtung auf die Stadtsituation lenken und zu neuen Aktionen inspirieren, wie eben diese Diskussion oder wie die sogenannten Reading Groups, eine Serie von kollektiver Lektüre, die im Bahnhofspark stattfinden. „Das können wir als Lungomare-Gruppe zu den aktuellen Geschehnissen in Sachen Stadtentwicklung beitragen,“ bekräftigt Roberto Gigliotti das Anliegen, „so kann vielleicht eine andere Sicht der Dinge zustande kommen, eine, die das Problem auf die Grundfrage zurückführt, nämlich: Was tut der Stadt und ihren Bewohnern gut?“

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Andrea Terrigno Fr., 12.06.2015 - 11:09

Entschleunigung (Schaffung von mehr Fußgängerzonen, Drosselung des Kraftfahrzeugverkehrs), Erhaltung und Aufwertung der bereits bestehenden Grünflächen statt Bebauung und Pseudobegrünung, allfällige Großparkhäuser sollten unterirdisch außerhalb des Stadtgebietes liegen, an eine gut durchdachte und leise Trambahn sowie an einen Fahrradverleih angebunden sein.
Für die Altstadt sollten keine zusätzlichen "Attraktionen", welche zusätzlichen Pkw-Verkehr und Zulieferer geschaffen werden.
Konsum und Dienstleistung ist nicht gleich Kultur, eher das Gegenteil.

Fr., 12.06.2015 - 11:09 Permalink