Gesellschaft | Klimawandel

Berlin bei 38,9 Grad

Wenn südliche Wärme auf preussische Kälte trifft, ist eine Art Idealzustand erreicht. Doch vorerst nur in der Meteorologie .

Von der feuchtwarmen Hitze in Istanbul gestresst, wollte ich in Berlin Abkühlung suchen. Keine gute Idee! Denn in Berlin lag vergangene Woche die Durchschnittstemperatur bei 35 Grad. In Istanbul kletterte - im gleichen Zeitraum - das Thermometer auf maximal 32 Grad. 

Doch der Ausflug nach Berlin hat sich gelohnt. Die deutsche Hauptstadt zeigte sich von einer ganz neuen Seite: Sie verwandelte sich im Handumdrehen in eine mediterrane Stadt. Wie in Trastevere (traditionelles römisches Stadtviertel) schleppten die Berliner Tische und Stühle aus den Wohnzimmern auf die Straße, um dort ihr Abendessen einzunehmen. Es ging auch lautstark zu, wegen der Ströme aus Wein und Bier, die dabei flossen.

Das Spree-Ufer ist schon bei normalem Wetter ein einziges Strandcafe. Letzthin sind auch Sandstrände dazugekommen, mit Liegestühlen und Sonnenschirmen - wie in Riccione oder Rimini! 

Dachterrassen haben Hochsaion, Seebäder und Schwimmbäder haben die Öffnungszeiten geändert. Sie schließen erst um 21 Uhr und öffnen eine Stunde früher.

Vor allem aber die Berliner, denen man Schnoddrigkeit und Einsilbigkeit vorwirft, waren wie ausgewechselt. Durch die Hitze milder gestimmt und gesprächiger, zogen sie durch die Stadt: Die Männer mit Stroh- oder Panamahüten, die Frauen mit Fächern. So, als ob sie sich auf diese Hitzeexplosion seit Jahren vorbereitet hätten. 

Am Freitag erreichte die Hitze in Müggelheim-Berlin 38,9 Grad. Das ist der neue Rekord  seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen. Schon Tage zuvor kündigten die Berliner Medien den neuen Hitzerekord an und gaben Ratschläge wie, ihm beizukommen sei. Viel Wasser, viel Schatten, wenig Anstrengung, möglichst eine Siesta während der Mittagshitze: So wie es in den mediterranen Ländern wie Spanien und Süditalien seit jeher gehandhabt wird.

Vielleicht hat die Hitze in Deutschland auch zur Völkerverständigung beigetragen.  Die mit der Hitze verbundene Trägheit und Langsamkeit konnten viele Deutsche erstmals am eigenen Leib erleben. Sie befanden sich ja nicht im Urlaub, wo solche Temperaturen geradezu erhofft werden. Nein - die deutschen Bürger mussten  bei solchen Temperaturen arbeiten, auch im Freien, im Schweiße ihres Angesichts.

Die Hitzewelle löste auf jeden Falle eine andere Welle aus: Die der Solidarität für die tausenden Asylbewerber, die sich in Berlin-Moabit vor der dortigen zentralen Aufnahmestelle versammelten, um die erforderlichen Papiere zu bekommen, die eine Einweisung in Flüchtlingsheime ermöglichen.

Über Facebook versammelten sich hunderte von Freiwilligen vor dem Lagesco (wie die Stelle heißt), um den hitzegeplagten Ausländern zu helfen: mit Wasser, Obst, Hygieneartikeln sowie Nahrung für Babys und Kinder. Nicht nur die Opposition, sondern sogar die regierende SPD kritisierte die zuständigen Behörden wegen der absolut unzureichenden Versorgung. 

Die Proteste der freiwilligen Helfer und der Politik zeigten Wirkung: Bis Samstag waren die knapp 2000 Asylbewerber untergebracht. Womit bewiesen ist, dass in Deutschland nicht nur Flüchtlingsheime angezündet werden (vor allem im Osten), sondern auch große Hilfsbereitschaft herrscht, die vielfach unterschätzt wird.

Mutige Journalistinnen und Medienleute haben Flagge gezeigt, um den Ausländerhass zu stoppen . Der bekannte Schauspieler Til Schweiger hat eine leerstehende Kaserne gekauft, um dort ein Modell-Flüchtlingsheim zu errichten. 

Am Höhepunkt der Hitzewelle, also im richtigen Moment, explodierte ein weiterer Korruptionsskandal rund um den geplanten Berliner BER-Flughafen. Eines der Schlüssel-Unternehmen, die deutsche Tochter der holländischen IMTECH, musste Insolvenz anmelden. Sie war bereits in einen Korruptionsskandal verstrickt gewesen: Ein Prokurist hatte 150.000 Euro dafür eingesteckt, dass er die Baukosten um 60 Millionen Euro erhöhte. 

Aus dem geplanten Eröffnungstermin Mitte 2017 wird vermutlich wieder nichts. Das wäre die bisher fünfte Verschiebung der Eröffnung! Peinlicher geht's nicht mehr. Ausgerechnet der Vorzeigeflughafen der Hauptstadt des mächtigsten EU-Staates versinkt im Korruptionssumpf.  Die Fertigstellung des BER sollte ursprünglich zwei Milliarden Euro kosten. Inzwischen sind die Kosten auf 5,4 Milliarden Euro angestiegen.  

Sehr mediterran, würde ich meinen!

Wobei ich mich frage: Weshalb regt sich der deutsche Durchschnittsbürger so fürchterlich über Griechenland auf, wenn er gleichzeitig beide Augen zudrückt wenn im eigenen Land  Misswirtschaft und Schlendrian dem Steuerzahler das Geld aus der Tasche ziehen? Ich habe in den Tagen nach Bekanntwerden dieses Skandals jedenfalls eine unverhältnismässig laue und zögerliche Kritik an diesem erneuten BER-Korruptionsskandal vernommen. 

Ist nur die Hitze daran schuld, dass sich in Deutschland niemand mehr wirklich über das seit 2006 währende BER-Desaster aufregt oder - was schlimmer wäre: Haben sich die Deutschen auch schon an Misswirtschaft und Schmiergeldskandale gewöhnt, wie es bei den Italienern der Fall ist, die seit Jahrhunderten sozusagen " damit leben"?

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Willy Pöder Mo., 10.08.2015 - 15:40

Nun, in Sachen Flughafen darf man wohl auch hier zu Lande von Misswirtschaft sprechen. Doch auch andere Skandale hatten wir zur Genüge - nicht nur die 'Deutschen und die Italiener'. Falls die Frau Oktavia Brugger aus Skandalsucht von Istanbul nach Berlin geflogen ist, hätte sie sich die heiße Reise freilich ersparen können. Im Ahrntal hätte sie es 'cooler' gehabt.

Mo., 10.08.2015 - 15:40 Permalink
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pérvasion Di., 11.08.2015 - 16:52

Ich weiß nicht, welches Berlin Frau Brugger vor der diesjährigen Hitzewelle kannte — für mich aber war die deutsche Hauptstadt jedenfalls immer schon freundlich, chaotisch, solidarisch und so gar nicht mit den Klischees über Deutschland in Einklang zu bringen. Die bundesweit einzigen Direktmandate von Grünen und Linken kommen nicht zufällig in Berlin zustande, dem ersten zumindest teilweise westdeutschen Bundesland, das (2002-2011) von rot-rot regiert wurde.

Di., 11.08.2015 - 16:52 Permalink