Auf der Suche
Gern und häufig begnügen wir uns mit knappen Sprüchen und einfachen Erklärungsansätzen wenn es darum geht, den Menschen, die auf ihrer Flucht auch in unser Land gelangen zu begegnen. Manchmal mischt sich Unverständnis und sogar Wut auf “die”, die von “uns” alles zu bekommen scheinen. Selten wird bedacht, was diese Menschen mitgemacht haben müssen, welch hoffnungslose Heimat sie hinter sich gelassen und unter welch widrigen Umständen sie ihre Reise in ein besseres Leben angetreten haben. Um über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und die aktuelle Lage in Sachen Migrationsbewegungen und Menschen, die in Europa und anderswo Asyl suchen, fand am Montag Abend eine Informations- und Diskussionsveranstaltung im Bozner Kolpinghaus statt. Anwesend waren neben nationalen und lokalen Vertretern der 5-Sterne-Bewegung, die zum Treffen geladen hatte, Mauro Vieste von der Gesellschaft für bedrohte Völker und Maximilian Benedikter, der als Arzt das Ambulatorium für zeitweise anwesende Ausländer STP (“stranieri temporaneamente presenti”) in Bozen koordiniert.
Als solcher berichtete Benedikter, wie sich die Menschen, die er im Ambulatorium zu Gesicht und zur Behandlung bekommt, verändert haben: “Als die Struktur 2003 ihre Anfänge nahm, hatte das Migrationsphänomen noch nicht solche Ausmaße wie derzeit angenommen gehabt”, wusste der Arzt zu berichten. Entsprechend seine Klientel – vor allem Migranten, die schon länger in Italien waren und ein mehr oder weniger stabiles Migrationsprojekt hatten. “Heute hingegen begegne ich zu annähernd 95 Prozent Flüchtlingen, die erst seit ganz Kurzem in Italien sind.” Dabei unterscheide er zwei Typologien von Flüchtlingen. Einerseits jene, die Südtirol per Quote zugewiesen wurden beziehungsweise auf eigene Faust ins Land kommen, um zu bleiben. Und andererseits jene auf der Durchreise, von denen man seit Beginn des Jahres verstärkt hört und spricht. Dass dabei er als Arzt, aber auch das gesamte Gesundheitssystem vermehrt an seine Grenzen stoße, wies Benedikter nicht von der Hand. “Obwohl es eine enorme Anstrengung gibt, Frauen, Minderjährigen und Familien alle mögliche Hilfe anzubieten, gibt es doch jene, die außen vor bleiben und unter Umständen auf der Straße landen”, so Benedikter. Was mit diesen Menschen, vor allem junge Männer geschehe, ist oft ungewiss. Die Versäumnisse sieht der Arzt – auch – in Politik und Verwaltung. “Die winterlichen Notschlafstellen werden erst am 15. November geöffnet und laut meinen Informationen werden es gleich viele wie im vergangenen Jahr sein. Wir versuchen mit extrem knappen Ressourcen ein Minimum an Hilfe für jene zu garantieren, die sie wirklich nötig haben. Aber angesichts dessen stelle ich mir schon die Frage, ob wir – wirtschaftlich und politisch – nicht mehr machen könnten?” Das in Unmengen von Kompetenzen aufgesplitterte Aufnahmesystem in Südtirol mache eine Koordination zwischen den einzelnen Akteuren unmöglich, kritisierte Benedikter. Außerdem sei vonseiten des Sanitätsbetriebs keinerlei Kollaboration mit den Flüchtlingen zu sehen. “Südtirol hat kein kompetentes Ärztepersonal für Integration, kaum jemand, der sich dort um die Flüchtlinge kümmert und es gibt auch keinerlei Ausbildungsweg dafür”, zeigte Benedikter auf.
Dabei schließen wir zumindest im Vergleich mit anderen italienischen Regionen relativ gut ab, was die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen anbelangt. Dieser Eindruck entstand im Publikum, als Giuseppe Brescia, 5-Sterne-Abgeordneter aus Bari, von den Zuständen in seiner süditalienischen Heimat berichtete. So gebe es etwa in seiner Stadt eine Aufnahmestruktur, gedacht für 700 Personen, in der zur Zeit 1.400 Menschen untergebracht seien, informierte Brescia: “Für all diese Menschen gibt es zwei Psychologen und eine Person, die für den Sprachunterricht zuständig ist.” Für ihn steht klar: “Die großen Aufnahmezentren gehören geschlossen. Nicht nur, weil dort Korruption grassiert und eine neue Form der Mafia unter den Kooperativen, die diese Zentren leiten entstanden ist. Sondern auch, um den Menschen eine humanere Behandlung zu garantieren.” Brescias Vorschlag: Die geschätzten 170.000 Flüchtlinge, die 2015 Italien erreichen sollen, gleichmäßig auf die 8.000 Gemeinden im Staat aufzuteilen. Das entspräche 21 Flüchtlinge pro Gemeinde. “Eine andere Lösung wäre, einen Flüchtling je 1.000 Einwohner zuzuweisen. Dann würde die Lage viel einfacher handzuhaben sein”, zeigte sich Brescia überzeugt. Doch dies sei nur ein Ansatz, um das “faule System” der Aufnahme zu verbessern. “Die italienische Politik muss endlich ernsthaft nach langfristigen Lösungen suchen und das die Flüchtlingsproblematik als strukturelles Phänomen erkennen und als solches angehen”, bemängelte der 5-Sterne-Abgeordnete.
In diesem Sinne tue die Politik, aber auch jeder Einzelne gut daran, einen Blick auf die Ursachen für die Wanderbewegungen zu werfen. Dieser Meinung ist Mauro Vieste. Denn wenn man etwa die historischen, geopolitischen und inzwischen auch klimatischen Entwicklungen zum Beispiel in Eritrea betrachte, verstehe man sehr schnell, warum derzeit vor allem junge Menschen in Massen aus dem ostafrikanischen Land fliehen. “Sie sehen keine Perspektive in einem Land, das 30 Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat, wo die Spannungen mit dem Nachbarland Äthiopien immer noch schwelen und in dem ab 16 Jahren ein lebenslanger Militärdienst gilt. Unter diesen Umständen ist es unumgänglich, dass solche Flüchtlingsströme entstehen”, so Vieste. “Und ein jeder von uns würde in einer solchen Situation dieselbe Entscheidung treffen.” Darüber sollten wir vielleicht öfters nachdenken. Und auch jene zum Nachdenken anregen, die mit saloppen Parolen und derben Sprüchen über Menschen herfahren, die auf ihrer Flucht in ein besseres Leben dasselbe aufs Spiel setzen.
Es ging mir in dieser
Es ging mir in dieser Diskussionrunde nicht darum eine allgemeine negative politische Kritik oder Meinung auszudrücken, sondern vielmehr eine technische Analyse zu meinem Kompetenzbereich als Leiter der stp-Ambulanz. Über das sanitäre Angebot direkt am Bahnhofsgelände wurde nicht gesprochen.
An jedem Dienst in der stp-Ambulanz untersuchen wir Freiwillige Ärzte und Pflegerinnen gleich mehrere Personen die angeben auf der Straße zu leben, obwohl sie die Prozedur für Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus begonnen haben. Es sind also nicht jene die nur auf der Durchreise sind. Die gibt es natürlich auch. Damit sie vielleicht ein Dach über den Kopf bekommen, brauchen sie eine ärztliches Zeugnis. Dafür wurden 6 Plätze (sog. Kriesenzentrum) im Haus der GastGastfreundschaft vorgesehen, die NICHT für die Flüchtlinge reserviert wären, aber de facto allen Bedürftigen zur Verfügung stehen. Leider sind es zur Zeit VIEL zu wenige. Und auch schon letztes Jahr als die Kältenotunterkünfte der Gemeinde Bozen (15 Nov) offen waren, immer ausgelastet, mit der Folge, dass etliche zum Teil mit chronischen Erkrankungen auf der Straße wochenlang ausharren mussten. Heuer wird es heftiger werden. Ich behaupte das, mit der Begründung, dass viele Flüchtlinge die momentan noch in den Flüchtlingsheimen leben, bald entlassen werden müssen, da die geschützte Integrationsphase ausläuft, obwohl viele noch nicht Wohnung und Arbeit gefunden haben. Es kommen neue nach. Und einige werden von anderen Ländern wieder zurück über den Brenner nach Italien/Südtirol verwiesen werden.
Natürlich kann man mir vorwerfen nur Kassandrarufe loswerden zu wollen, aber wir Ärzte und Pflegerinnen der stp-Ambulanz haben einen privilegierten Aussichtspukt, der anscheinend niemand interessiert.
Antwort auf Es ging mir in dieser von Maximilian Ben…
Ich möchte hier nur einen
Ich möchte hier nur einen Nebensatz "....obwohl viele noch nicht Wohnung und Arbeit gefunden haben" herausgreifen um eine Bemerkung anzubringen. Es scheint so zu kommen, dass es jetzt vermehrt einen Verdrängungswettbewerb geben wird und schon gibt. Ich habe einige Migranten in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Einige haben es gut geschafft, sich in die Arbeitswelt zu integrieren, andere weniger oder überhaupt nicht. So ist ein Familie wieder zurück nach China, weil sie es hier nicht schaffte, u. A. eine angemessene Arbeit zu finden. Eine marokkanische Familie ist wieder zurück gezogen, nachdem sie schon ca. zehn Jahre hier war und die Kinder hier zur Schule gingen. Ein Sohn ist nach kurzer Zeit wieder hierher zurück gekommen: aber noch arbeits- und obdachlos. Eine indische Familie ist in Begriff, auch wieder in ihr Land zurück zukehren. Ich will damit sagen, den ankommenden Flüchtlingen werden viel zu viele Hoffnungen gemacht, die Ernüchterung und Enttäuschung ist vorprogrammiert. Das Geld, die Energie, die Hilfsbereitschaft wird vor allem auf neu ankommenden gelenkt. um jene, die schon da sind - auch schon lange da sind - kümmert sich kaum noch jemand. Und so scheitern viele, obwohl sie schon einige Integrationsschritte gut bewältigt haben/hatten. Ein Tunesier, Mitte dreißig, kam als Gastarbeiter schon vor 12 Jahren mit der Arbeitsplatzzusage bei der Speed-Line. Es dauerte nicht lange, dann schloss diese. Er hatte Glück und fand einen weiter Industrie-Job. Doch auch dieser Betrieb schloss bald, nachdem er von einem amerikanischen Konzern übernommen worden war. Seit dem hat er keine längere Beschäftigung mehr gehabt. Arbeitslos, Hilfsjob als Wochenendaushilfe, als Ersatz für zwei drei Monate im Gastgewerbe. Er erhielt einmal auch Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, war aber auch obdachlos, usw. Obwohl er ein sehr gutes Italienisch spricht und mE gute Voraussetzungen hätte. Es wird nicht mehr lange dauern, dass auch er von den neu Angekommenen, die besser unterstützt und protegiert werden, verdrängt wird.
Antwort auf Ich möchte hier nur einen von Sepp.Bacher
mit (zu großen) Hoffnungen
mit (zu großen) Hoffnungen starten alle Menschen in die Migration, ob Iren und Italiener im vorigen Jahrhundert oder Marokkaner, Pakistaner, Chinesen etc. heutzutage. Auch der Verdrängungsprozess gehört zu den Migrationsströmen, die immer und überall die Gesellschaften prägen, historisch gibt es da meist nur "kurze" Unterbrechungen.
Antwort auf Es ging mir in dieser von Maximilian Ben…
die derzeitigen sogenannte
die derzeitigen sogenannte (Kälte)Notunterkünfte sind weder für "hiesige" Menschen noch für Migranti_innen bzw. Flüchtlinge geeignet. Sie entsprechen dem Asylprinzip aus dem 18./19. Jhdt. und sind nicht auf Integration ausgerichtet, daher fehlen auch die entsprechenden Ressourcen in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht. Die meisten dieser Menschen sind im Alltagsleben autonom, bräuchten weder Ausspeisung noch einen Nachtwächter. Diese Gelder könnten in eine bessere ambulante Betreuung investiert werden, welche die Menschen unterstützt ihr Leben zu meistern bzw. sie bei der Integration begleitet. Die Caritas ist da in einigen Strukturen schon ein paar Schritte weiter, es ist aber noch ein Stück bis zum mitteleuropäischen Level.